Anfang der 1960er Jahre befand sich das Kino in der Bundesrepublik in der Krise, ebenso in der DDR. Die Kritiker waren unzufrieden, die Zuschauer wandten sich zunehmend ab und liefen zum Fernsehen über, die Filme waren künstlerisch allenfalls Durchschnittsware und fielen auf Filmfestivals deutlich ab gegen die Beiträge der aufstrebenden europäischen Nachbarn ČSSR, Frankreich und Italien. Gleichzeitig meldete sich aber in beiden deutschen Staaten auch eine neue Generation von Filmschaffenden zu Wort, die andere Wege gehen wollte als die Regie-Routiniers.
Cinefest 2012 betrachtet vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Verwerfungen zwischen Stagnation (Adenauer-Zeit, Mauerbau) und ersten sozialen Umbrüchen sowie einer zunehmend kritischen Auseinandersetzung mit der Nazizeit die Entwicklung des deutschen Kinos in Ost und West in der ersten Hälfte der 1960er Jahre und fragt: Wer waren die »Jungen«? Waren die »Alten« tatsächlich Ewiggestrige, oder lassen sich nicht auch bei Ihnen Ansätze zu inhaltlicher und ästhetischer Neuorientierung erkennen?
In der Bundesrepublik war das 1962 von einer Gruppe münchner Filmschaffender verfasste »Oberhausener Manifest« der öffentlichkeitswirksamste Versuch eines Neuanfangs, deren Verfasser in diesem Jahr vielfach als Väter des »Neuen Deutschen Films« gewürdigt werden. Doch neben den »Oberhausenern«, die »Papas Kino« kurzerhand für tot erklärten, versuchten andere Regisseure und Autoren ihre ganz unterschiedlichen Visionen eines neuen Kinos zu realisieren. Es bildeten sich lokale Zentren mit Ansätzen eines »Anderen Kinos«: in Hamburg mit dem Schwerpunkt auf Animations- und Experimentalfilm (Franz Winzentsen, Hellmuth Costard, Helmut Herbst), in Berlin öffnete sich das Literarische Colloquium auch dem bewegten Bild (Wolfgang Ramsbott, George Moorse) und in München bildete sich neben den »oberhausener« Kulturfilmern eine Gruppe stark am Genrekino orientierter Filmmacher unkonventioneller Kurzspielfilme (Rudolf Thome, Klaus Lemke, Max Zihlmann, Roland Klick).
Auf die Suche nach Tendenzen der Erneuerung innerhalb des etablierten Produktionsapparats zeigt Cinefest Werke von westdeutschen Vorzeigeregisseuren (Kurt Hoffmann), erfahrenen Regie-Handwerkern (Alfred Weidenmann), eigenwilligen Einzelgängern (Will Tremper, Bernhard Wicki, Wolfgang Neuss) und jungen Genre-Spezialisten (Jürgen Roland) sowie »Seitensprünge« von Fernsehregisseuren (Franz Peter Wirth). Die Bandbreite der Produktionen reicht dabei von prallen Gesellschaftspanoramen (Das Wunder des Malachias) über improvisierte Sozialstudien (DIE ENDLOSE NACHT), kabarettistische Zeitkritik (GENOSSE MÜNCHHAUSEN), Ost-West-Liebesgeschichten im Kleine-Leute-Milieu (ZWEI UNTER MILLIONEN), deftigen Tragikomödien im Flüchtlings-Milieu (VERDAMMT ZUR SÜNDE) und semidokumentarischen Kriminalgeschichten (POLIZEIREVIER DAVIDSWACHE) bis zur satirischen und melodramatischen Abrechnung mit der NS-Vergangenheit (KATZ UND MAUS, DAS HAUS IN DER KARPFENGASSE).
Ein vergleichender Seitenblick nach Frankreich soll zeigen, wie sich – auch mit Hilfe »deutscher« Stars wie Romy Schneider und Hardy Krüger – »Altmeister« des französischen Films wie Henri-Georges Clouzot von der Nouvelle Vague inspirieren ließen oder Seiteneinsteiger wie der Dokumentarist Serge Bourguignon nach neuen Wegen im Spielfilm suchten.
In der DDR waren die Filmschaffenden in den 1950ern auf die Prinzipien des »Sozialistischen Realismus« und den Kampf gegen »Formalismus« und »kleinbürgerliche Tendenzen« eingeschworen worden, was die Zuschauer zunehmend aus den Kinos trieb und den Ruf der DEFA nachhaltig beschädigte. Nach dem Bau der Mauer hoffte eine neue Generation Filmschaffender aus Filmhochschule und DEFA-Nachwuchsstudio auf die Möglichkeit, sich solidarisch-kritisch mit den Problemen der ökonomischen und sozialen Entwicklung des Landes beschäftigen zu können. Gefördert durch undogmatische Kultur-Funktionäre entstanden zunehmend mutigere Gegenwartsfilme, deren Produktion jedoch mit dem »Kahlschlag« des 11. Plenums des ZK der SED im Dezember 1965 ein abruptes Ende fand.
Cinefest 2012 verfolgt die Entwicklung der jungen DEFA-Regisseure wie Frank Beyer, Ralf Kirsten und Konrad Wolf, die die Filmhochschulen in Babelsberg, Prag und Moskau absolviert hatten oder wie der gelernte Kameramann Joachim Hasler und der Autor Egon Günther Erfahrungen im DEFA-Studio gemacht hatten. Ihre Filme nahmen mit unterschiedlichen Mitteln gesellschaftliche und historische Themen ins Visier: JULIA LEBT und BESCHREIBUNG EINES SOMMERS beteiligten sich mit Liebesgeschichten aus der Lebenswelt der Jugend an der Diskussion um die »Sozialistische Moral«, während das Ehe-Dramolett LOTS WEIB von der hohen Scheidungsrate in der DDR inspiriert war. DER GETEILTE HIMMEL verband ästhetisch hoch ambitioniert die Probleme beim Aufbau der neuen Gesellschaft mit der Problematik des geteilten Deutschlands und löste eine Diskussion über »Formalismus« aus. Die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit und seinen Folgen stand im Mittelpunkt der sachlich-kühlen Fallstudie DER FALL GLEIWITZ und des hochemotionalen Kriminalfilms CHRONIK EINES MORDES.
Wichtige Impulse erhielt der DEFA-Film in dieser Zeit vor allem von der »Neuen Welle« in der ČSSR, die in den 1960ern ausging von Absolventen der Filmhochschule FAMU (Jiří Menzel, Jan Němec, Evald Schorm, Věra Chytilová, Jaromil Jireš) und Mitte des Jahrzehnts ihren Höhepunkt erreichte. Dabei nahmen auch ältere Regisseure wie František Vláčil und Štefan Uher neue Impulse auf. Es waren nicht nur die Filme aus Prag und Bratislava, die die Filmschaffenden in der DDR durch ihre neuartige Machart und Atmosphäre mit einer starken Betonung des Alltags beeinflussten, sondern auch die Ausbildung an der FAMU und die Mitarbeit tschechischer Kollegen an DEFA-Filmen.
Cinefest 2012 betont damit interessante ästhetische und gesellschaftliche Zusammenhänge und Verbindungen auf europäischer Ebene jenseits der üblichen Film-Geschichtsschreibung in einer historischen Übergangsepoche.
Zum Festival erscheint wieder ein umfangreiches Katalogbuch, inkl. einer DVD-Beilage mit Filmen und Dokumenten zum Thema. Erhältlich ab 17.11.2012
Zur Vorbereitung auf Kongress und Festival findet vom 3.-6. Mai 2012 ein internes Sichtungskolloquium in Berlin statt.
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