Berlin kurz vor dem Mauerbau: Der Pendler Kalle arbeitet gleichzeitig in Ost- und West-Berlin. Er hilft einer jungen Frau aus der »Zone« über die Grenze in den Westteil der Stadt. Christine möchte eigentlich weiter zu ihrer Schwester nach Düsseldorf, doch als das nicht klappt, verschafft ihr Kalle eine Bleibe über der Kneipe, in der er arbeitet. Er träumt davon, die Kneipe eines Tages zu übernehmen. Christine findet inzwischen Arbeit in einem Büro. Sie und Kalle verlieben sich und heiraten kurzentschlossen. Doch die junge Ehe gerät in die Krise, als Kalle beim Versuch die Kneipe zu kaufen von einem reichen Spekulanten überboten wird. Als Christine ihm dann auch noch eröffnet, dass sie seinen Traum als Kneipenbesitzer nicht teilt, kehrt er frustriert zu seinen alten Kumpels in Ost-Berlin zurück. Aber auch dort findet er nicht das ersehnte Glück und Zufriedenheit. Wieder in West-Berlin versöhnt er sich mit Christine.
Seit 1958, seit Georg Tresslers #Endstation Liebe#, sahen wir keinen westdeutschen Film mehr, der es so verstand, dem gleichmacherischen Zuschnitt unserer Leinwand-Konfektion zu entgehen. Dieses Kompliment gilt zunächst dem jungen Dramatiker Gerd Oelschlegel, der das Drehbuch besorgte und seinen Regisseuren folgende, vom Geist Falladas getränkte Geschichte erfand: Kalle, ein ostberliner Lastwagenfahrer, der abends in Westberlin kellnert, lernt die Stenotypistin Christine aus Rostock kennen und lieben, die in den Westen kommt, von dem sie sich nicht nur größere Freiheit, sondern auch größeren Wohlstand erhofft. Die beiden heiraten bald, Christine findet Arbeit, auch Kalle zieht nach Westberlin und arbeitet jetzt ganztags in jener Eckkneipe, die er in absehbarer Zeit kaufen zu können glaubt. Doch Petersen, neureicher Besitzer zahlreicher Hähnchenbratereien, sticht Kalle und seine mühsam ersparten viereinhalbtausend Mark um ein vielfaches aus. Zurück bleibt ein desillusioniertes Paar, das sich an die Bemerkung Paulchens, Kalles ostberliner Kollegen, erinnert: »Bei euch ist auch nicht alles Gold. Das wirst du schon noch merken.«
Der Regie gelingt es das ist das wahrhaft überraschende , Oelschlegels Geschichte mit adäquater Behutsamkeit filmisch zu formulieren. Was Gefühl ist an der Fabel, die Liebe der Protagonisten, geht durch den Filter einer milden Kritik, weiß Distanz zu wahren, die deutlich wird, wenn die Kamera während einer Versöhnungsszene des Paares nicht die Gesichter abtastet, sondern langsam zurückfährt. Die unaufdringliche Kritik der Story, die Enttäuschungen, die Kalle und Christine (Krüger und von Friedl) durchzustehen haben, werden dafür mit den Augen verliebter Leute, werden lyrisch gesehen, ohne deswegen ihre objektive Härte zu verlieren. Als Liebende glauben die Protagonisten zwar, es »schon irgendwie zu schaffen«, doch indem sich erweist, daß es mit dem Irgendwie nicht zu schaffen ist, muß auch dem bloßen Gefühl füreinander das Gespräch miteinander folgen.
Mit seinen jungen französischen Kollegen teilt Regisseur Wieland Liebske (denn er, und nicht Vicas, der schon bald nach Beginn der Dreharbeiten erkrankte, darf wohl als Schöpfer des Films betrachtet werden) die Lust an langen Fahrten, Panoramen im Freien, totalen Interieurs und all jenen Kamerabräuchen, die dilettantisch sind in des Wortes bestem Sinn. Mit Liebske, dem langjährigen Assistenten Alfred Weidenmanns, erwächst dem deutschen Film so ungeahnt ein Talent, von dem zu wünschen wäre, daß es nicht den Weg Tresslers geht.
rpk [= Martin Ripkens]: Zwei unter Millionen
Filmkritik, Nr. 12, Dezember 1961
Klein ist der äusserliche Anspruch der Fabel von Gerd Oelschlegel: nahe einer Unterkühltheit echter Herzenstöne, die so gar nichts vom falschen, germanischen Pathos und so viel vom englischen »Understatement« in sich trägt. Berlin, die zweigeteilte Stadt, die noch nicht durch die Schandmauer zur brutalen Frontstadt ausgewachsen ist, bildet den Hintergrund einer kleinen, grossen Geschichte. [...]
Klug und behutsam wurde die Fabel aus dem Berliner Alltag heraus entwickelt. Der Schluss des Films, der die junge Frau zur Diebin werden lässt, ist überflüssig, weil wenig glaubwürdig. Ansonst atmet dieser Film jedoch eine Frische, eine echt mögliche Lebensnähe, für die man beinahe eine ganze bundesdeutsche Jahresproduktion billig geben mag. Die leise Kritik an den Zuständen hüben und drüben ist durch die perverse Selbsteinmauerung des bankerotten DDR-Regimes in der Zwischenzeit grausam überboten worden. Sie stimmt jedoch sehr genau mit Blick auf die beiden Protagonisten. Keine »Helden« sind Kalle und Christine. Ihr endliches Sesshaftwerden im freien Berlin ist ein Entschluss, der im Materiellen allein begründet liegt: in der härteren Währung gleichsam, die sie die gefährliche, konjunkturüberhitzte Luft des Westens der dumpfen Einöde Ostberlins vorziehen heisst. Mit dem Erwerb »ihrer Kneipe« möchten sie ganz einfach Anteil haben am Überfluss, den das »goldene Kalb« verströmt. Wie kleine Leute wirklich den innerlichen Gefährdungen des Wirtschaftswunders ausgesetzt sein können, wird hier eindringlicher, glaubhafter und humanistischer als in zahllosen, mit grossen Starnamen adaptierten Illustriertenromanen aufgezeigt. Vicas und Liebske, die beiden Regisseure, haben dem Berliner von heute auf den Mund und damit ins Herz geschaut. Das Spiel der beiden Hauptdarsteller trägt nichts von falscher Gefühlsträchtigkeit an sich: ist so zerbrechlich, wie man es kaum mehr für möglich gehalten hätte verströmt eine seelische Doppelbödigkeit, ein glaubhaft-naives Geöffnetsein gerade im Spröden. Walter Giller als der Dritte im Bunde, ist eine unverstellte »Berlinerschnauze«, wenngleich er sich bisweilen etwas aufpoliert neben den stillen Hauptdarstellern ausnehmen mag. Ohne sich modernistisch zu geben, hat der Kameramann Heinz Hölscher ein veristisches, atmosphärendichtes Bild der ehemaligen deutschen Hauptstadt eingefangen. So ist im gesamten denn ein kleines Filmwunder entstanden: nahe einem echten Mut zum »kleinen Thema«, das zu bewältigen in einer Wirrnis falscher Wertmassstäbe und filmformaler Pervertiertheit ein echtes, mutiges Anliegen genannt werden muss.
M. : Zwei unter Millionen
Die Tat (Zürich), 22.10.1962