Der Film schildert das Schicksal der Bewohner eines Wohnhauses im jüdischen Viertel Prags nach dem Einmarsch deutscher Truppen im Jahr 1939. Zu ihnen gehören eine alte Witwe, die einst ihren Sohn verstoßen hat, der sie nun nach Brasilien holen will; außerdem die Besitzer eines Papiergeschäfts, die von den deutschen Besatzern in den Ruin getrieben werden. Einer weiteren Kaufmannsfamilie gelingt es, nach Palästina zu emigrieren, während ihre Nachbarn das Ende ihrer Existenz nicht verwinden können. Eine junge Studentin schließt sich einer Widerstandsgruppe an, wird jedoch entdeckt. Nur der deutschstämmige Hauswart Glaser scheint von den veränderten Verhältnissen zu profitieren.
The film follows the fate of inhabitants of a house in the Jewish quarter of
DAS HAUS IN DER KARPFENGASSE gehört nicht zu jener Reihe mißlungener Filme, die um ihrer guten Absicht willen bei uns mit Samthandschuhen angefaßt zu werden pflegen, nur damit überhaupt von Zeit zu Zeit noch jemand solche Versuche unternimmt. Es ist vielmehr ein in mancher Hinsicht geglückter, auf jeden Fall respektabler Film. Schauplatz ist, getreu dem Roman von M. Y. Ben-gavriel, jenes Haus in der Prager Karpfengasse, über dessen jüdische Bewohner im März 1939 die erahnbare, aber, wie es im 1. Kapitel heißt, krampfhaft nicht zur Kenntnis genommene Weltgeschichte hereinbrach. Ein Augenblick der Weltgeschichte, gespiegelt in einer Reihe privater Schicksale, exemplifiziert in parallelgeschalteten Episoden zwischen Menschen des Alltags.
Der Film verknüpft sie, mit der Geschichte des Mädchens Bozena als Klammer darum, in jener Technik gebündelter Schicksale, deren bekanntestes Muster Julien Duviviers UNTER DEM HIMMEL VON PARIS geworden ist. Freilich nicht wie dort in geradlinigem Fortgang, sondern in einer Vielzahl von Rück- und Vorblenden und inneren Monologen, deren Stimmungshaftigkeit dann dokumentarischen Aufnahmen konfrontiert wird. [...]
Fast nichts haben diese Menschen miteinander gemein gehabt, so lange sie das Haus Nr. 115 bewohnten. Über den flüchtigen Gruß auf den Korridoren und Treppen ist ihre Bekanntschaft kaum hinausgelangt. Und plötzlich sind sie eins geworden in der Ahnungslosigkeit des Ausgeliefertseins an die Dämonie des Anonymen, an jene unbekannte Instanz, die sie, Insekten gleich, wie in den Alpträumen Franz Kafkas zerquetscht.
Denn das Prag dieses Films ist gewiß nicht das von Veit Harlans Film DIE GOLDENE STADT (mit seiner freilich verräterisch-rassistischen Tendenz), es ist auch nicht das Gustav Meyrinks. Der Gedanke an Kafka aber drängt sich auf, und tatsächlich greift der Film, ähnlich dem PROZESS des Orson Welles, zur Symbolik von Menschenminiaturen vor riesigen Türen und Stiefeln eindringlich und bestürzend die Schärfe der Kamera Josef Illiks.
Freilich eignet sich dieses Stilelement besser zur Überhöhung der Dokumentaraufnahmen mit dem Marschtritt der Kolonnen und dem Aufmarsch der Panzer (es greift in eins mit dem Ableuchten der Gesichter vor der jüdischen Kultusgemeinde oder auf dem Friedhof bei der Beerdigung des ermordeten Studenten), als es sich mit der Sentimentalität der Handlungs- oder besser Geschehensführung im Grunde genommen verträgt.
Denn ein sentimentaler Grundzug bestimmt den Film. Aber der stammt schon aus der Vorlage. Ben-gavriel, einst k. u. k.-Offizier, hat ein Buch der Erinnerung und des Heimwehs geschrieben, mehr aus dem Mitgefühl für die Unterdrückten denn aus dem Haß gegen die Unterdrücker. Und so ist der Film, den Kurt Hoffmann daraus gemacht hat, nicht zufällig keine Anklage, sondern eine Elegie geworden, vielleicht aber gerade deshalb hörbar für die, welche sich gegen deutlichere Töne taub stellen. Hoffmann, den Lustspielregisseur, hat sein humanes Denken bei der ersten Lektüre des Buches zur Verfilmung bewogen, nein, bewegt. Von ihm ein Furioso zu erwarten wie von Bernhard Wicki, wäre verfehlt gewesen. Aggressiver Elan ist nicht seine Sache. Sein Humanismus bewegt sich immer ein bißchen auf der Ebene des Seid-nett-zueinander. Sein Hauptwesenszug ist eine betuliche Heiterkeit auch bei Kästner sucht er nur das Positive. [...]
Der atmosphärischen Echtheit kommt es zugute, daß Hoffmann für seinen Film nicht Stars, bemüht, sondern Gesichter gesucht hat, deutsche und tschechoslowakische Schauspieler. Obwohl das Dokumentarische auch in kürzesten Einblendungen obsiegt, geht so der Eindruck des Authentischen auch in den gespielten Szenen nie ganz verloren. Alexander Kluges PORTRÄT EINER BEWÄHRUNG etwa erreicht gewiß keinen größeren Grad an Glaubhaftigkeit. [...]
Zum wichtigen dramaturgischen Faktor wird die Musik Zdenek Liskas: sie charakterisiert (Glasers bornierten Nationalismus durch Marsch, Polka und Walzer), sie verknüpft (Bozenas Beziehung zu Milan durch ein volksliedhaftes Motiv, im Untergrund instrumental, im Zimmer Spieldose) und sie steigert sich zum stilisierten Geräusch (Ortsschild Lidice, Demonstration vor der Universität). Das mag an Einzelheiten genügen. Alles in allem ist Dank zu sagen, daß hier, nach 25 Jahren, endlich ein Film an Dinge rührt, die nicht ungeschehen gemacht werden, indem wir sie zu vergessen trachten, und daß das gerade durch einen Regisseur geschieht, den niemand gescholten hätte, wäre er bei seiner bisherigen politischen Zurückhaltung geblieben.
Reimar Hollmann: Elegie des Gewissens
Film, Nr. 5, Mai 1965