Deutschland 1939: Um den geplanten Überfall auf Polen zu rechtfertigen, lässt Hitler fingierte Attentate polnischer Nationalisten auf deutsche Einrichtungen inszenieren. SS-Hauptsturmführer Alfred Naujocks wird für den Überfall auf den schlesischen Sender Gleiwitz eingeteilt. Mit gefälschtem Dienstausweis verschafft er sich Zutritt zum Sender, um sich zu orientieren und den Anschlag vorzubereiten. Gleichzeitig wird ein KZ-Häftling als angeblicher Täter präpariert, der im Anschluss an den Überfall vor dem Sender erschossen werden soll. Die SS-Männer dringen in den Sender ein, überwältigen die Techniker und verlesen einen angeblich von polnischen Freiheitskämpfern verfassten Aufruf, während im Hintergrund Mobiliar und Glas zertrümmert wird, um den Überfall glaubhaft zu machen. Der Film endet mit den berüchtigten Worten aus Hitlers Ansprache vom 1. September 1939, die den Beginn des Zweiten Weltkrieg markieren: »Seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurückgeschossen.«
Der Film berichtet vom Ablauf der von den Nazis präzise eingefädelten und präzise und nüchtern selbst ausgeführten »polnischen Provokation Großdeutschlands«. Er zeigt, wie man Kriege macht.
Die Autoren Wolfgang Kohlhaas (BERLIN - ECKE SCHÖNHAUSER, ALARM IM ZIRKUS, EINE BERLINER ROMANZE) und Günter Rücker haben sich streng an die tatsächlichen Vorgänge gehalten. Sie bedienten sich dabei der Aussagen, die der ehemalige SS-Hauptsturmführer Naujocks 1944 in Gefangenschaft geraten vor einer amerikanischen Vernehmungsbehörde machte.
Es geht ihnen nicht darum, die oberflächliche Spannung eines Kriminalfilms zu erzeugen. Illusionslos und sachlich, in einem strengen, fast dokumentarischen Stil rollt die Geschichte ab. Die Handlung wird als bekannt vorausgesetzt und im Laufe des Films durch die Handelnden nachdrücklich noch mehrfach erklärt: Sieh dir das an, will das heißen; du wirst hier durch nichts abgelenkt Zeuge der Technik des Verbrechens größten Stils. Überleg’ dir das; die dieses Verbrechen inszenierten und inszenieren ließen, sind nicht alle tot sie leben und sie haben Macht.
Die ganze Nazi-Mentalität wird hier in einer Weise bloßgestellt, wie das nur in ganz wenigen Filmen bisher gelungen ist. Verlogene Ideale: Größe, Treue, Ehre, Gehorsam, der Traum von der blonden Herrenrasse, Gefühlskälte, gepaart mit heimwehmütiger Blut-und-Boden-Mentalität. Aber in keiner Szene bietet sich Grund, darüber zu lächeln. Nichts ist karikiert, und nirgendwo ist vordergründig das Gesicht des vierschrötigen Menschenfressers dargestellt. Hinter diesen SS-Leuten lauert kalte Gefahr.
Obwohl der Film wie ein Dokument wirkt, ist er doch ein mit besten künstlerischen Mitteln gestalteter Spielfilm von einer selten erreichten Geschlossenheit. Das Wort wird nur verwandt, wo es unbedingt notwendig ist, sonst trägt den Film über weite Strecken eine erregende Bildsprache. Kameramann ist Jan Čurik aus der CSSR, der mit seiner WEISSE TAUBE die Welt auf sich aufmerksam machte. Ungewöhnliche Blickwinkel, ungewöhnliche lange Kamerafahrten, ungewöhnliche Großaufnahmen, ungewöhnliche Effekte mit Licht und Schatten eine Sprache, die man bei der DEFA schon beinahe verlernt hatte. Dabei ist auch in der Kameraführung nichts Selbstzweck, alles fügt sich; fugenlos an- und ineinander. In allem wird nach genauerer Überlegung eine Absicht deutlich. Großartig ist das durch Kurt Schwaens Musik unterstrichen, ebenfalls ganz der Sachlichkeit dieses Films unterstellt. Nirgendwo gibt es da orgelnden Bombast, nirgendwo verselbständigt sie sich.
G. S. [= Günter Sobe]: Der Fall Gleiwitz
Berliner Zeitung, 29.8.1961
Der authentische Stoff hätte eher eine Dokumentation als ein Kunstwerk erwarten lassen. Doch voller Freude stellt man fest: Dieser Film ist Dokument und Kunstwerk zugleich! Disziplinierte Eigenwilligkeit bestimmt sein Geschehen. Diszipliniert vor allem, weil sich seine Schöpfer an gerichtsnotorische Fakten gehalten haben. Eigenwillig, weil sie für deren Vermittlung neue Formen suchten und fanden. Sie verzichteten dabei auf naheliegende und für ähnliche Zwecke ebensooft ge- wie mißbrauchte Hilfsmittel, so auf Verwendung erhalten gebliebenen Wochenschau-Materials, auf Montagen, auf Trickaufnahmen. [...] So entstand ein Film, der auf den ersten Blick kühl und beinahe gefühlsarm anmuten mag. Der klaren Sachlichkeit bedurfte er, um das ungeheuerliche Beispiel faschistischer Demagogie für jeden glaubhaft zu machen. Und daß er ganz und gar nicht gefühlsarm ist, beweist die Reaktion des Publikums besser als jede theoretische Tüftelei: Es verläßt das Kino mit gesenkten Köpfen, sich erinnernd an die Wahrheit des Dargestellten. [...]
Die Exaktheit war notwendig, um hinter dem einen Fall das barbarische System erkennen zu lassen. Folgerichtig erscheinen seine Vertreter als fast anonyme Gestalten, von denen nur eine deutlicher skizziert ist: Helmut Naujocks (Hannjo Hasse), ein SS-Hauptsturmführer, an dessen Stelle wiederum ein beliebiger anderer SS-Offizier stehen könnte. An ihm wird demonstriert, wie sich ein ganz durchschnittlicher Mensch im Solde des Verbrechens seiner Menschlichkeit entledigen und zur gleichgültig dienstbereiten Kreatur werden muß. Und das ist einfach großartig gemacht! [...]
DER FALL GLEIWITZ ist ein leiser Film. Sparsam wie mit allen Mitteln wird mit den Dialogen verfahren. Um so greller und schmerzhafter dröhnt einem immer wieder ein Wort ins Ohr: »Jawohl!« Es ist der Horde summarische Begründung für den Augenblick und summarische Entschuldigung für später. Genauer: für jetzt! Denn eben die Naujocks’ und Müller sind wegen dieses Wortes heute pensionsberechtigte Beamte in der Bundesrepublik.
Rudi Strahl: Der Fall Gleiwitz
Filmspiegel, Nr. 17, 25.8.1961