Flughafen Berlin-Tempelhof 1962. Wegen Nebels sind alle Flüge gestrichen. Zahlreiche Passagiere sind für eine lange Nacht auf dem Flughafen gestrandet. So mancher Plan ändert oder zerschlägt sich, und so manch unverhoffte Begegnung führt zu neuen Gelegenheiten. Ein alternder Schauspieler verpasst die Rolle seines Lebens, ein Geschäftsmann sucht verzweifelt einen Geldgeber, um einen Wechselbetrug zu vertuschen, ein eingebildetes Film-Sternchen ohne Geld lässt sich von zwei Halbstarken abschleppen, ein englischer Gentleman träumt mit einer Flughafenangestellten von einem Leben auf seiner Farm in Südafrika. Einen untreuen Ehemann beschleicht der Verdacht, dass seine Frau ihn ebenfalls betrügt. Eine Frau will mit ihrem italienischen Geliebten durchbrennen, wird aber von der Familie heimgeholt. Am nächsten Morgen fliegen die Flugzeuge wieder und das Leben geht weiter.
Airport Berlin-Tempelhof 1962: Due to a heavy fog all flights have been cancelled. The terminal is crowded with stranded passengers who are in for a long night at the airport. In the shuffle to reschedule or recover from shattered plans, unexpected encounters lead to new opportunities. An elderly actor misses out on the role of a lifetime; a businessman is desperately in search for an investor to cover up his fraudulent billing practices; a vain film starlet without cash allows herself to be picked up by two teenagers; an English gentleman spends hours with an airport employee dreaming about a life together on his farm in South Africa; an unfaithful husband starts suspecting that his wife is betraying him; a woman wants to run away with her Italian lover while her family tries to keep her at home. The next morning, the planes fly again and life goes on.
Der Film ist ein absonderliches Gebilde, das teils erheitert, teils verstimmt, durch gewisse Merkmale aber ganze Aufmerksamkeit verdient. DIE ENDLOSE NACHT zeichnet sich nämlich durch einige Eigenschaften aus, wie sie im kommerziellen deutschen Spielfilm seit Jahren offenbar hoffnungslos verschüttet sind:
Der Film wirkt bei allen Zügen saftiger Kolportage und deftigen Kintopps, die ihm anhaften erstaunlich frisch und wirklichkeitsnah; das Bild hat Kraft und Bewegung, und die Dialoge sind von einer Authentizität, die wir hier lange vermißt haben. [...]
Eine Handvoll Biographien, sozusagen geblitzt. Kurze Kapitel aus einigen Lebensläufen, Stockungen. Bis hierher ging’s und morgen geht’s weiter ... Was aber geschieht in dieser einen Nacht unvorhergesehener Störungen?
An diesem Punkt entzündet sich die Phantasie des Illustriertenautors Tremper:
Er illustriert nicht detailliert das wohl Übliche, das allgemein Quärrige und übliche Gnatschige solcher Situationen er malt kräftig, sozusagen mit der Faust des Sensationsjournalisten, Einzelschicksale:
Tragödien unterschiedlichen Kalibers wickeln sich ab. Satt und saftig findet Schicksal statt. Im Rahmen wirkungsvoller Klischees blüht die Kolportage ...
Doch Tremper verzichtet, zum Glück, weitgehend auf Handlung. Er macht Skizzen. Kintopp wuchert zwar an allen Ecken der Stories, doch dazwischen geht der Wind der Wirklichkeit.
Tremper fummelt ein Mosaik aus Begegnungen und Gesprächen: Die jeweilige Situation mag sowohl konstruiert als zufällig sein, zuweilen unfreiwillig komisch oder pseudodramatisch ihr Wert steckt oft im Detail ... Mögen die Stories sich auch hauptsächlich um den Geschlechtsverkehr und den Geldaustausch bewegen Tremper kann beobachten und vermitteln; Typen, Bilder und Dialoge wirken glaubhaft wie lange nicht mehr im deutschen Film.
Grotesker Fall: Momente deutscher Wirklichkeit ausgerechnet im saftigsten Kintopp! [...]
Der Film hat Handschrift etwas skurril zwar, mit einigen Fehlern in Orthographie und Interpunktion, sozusagen; doch die Wahl der Schauplätze, der Klang der Dialoge, Bild und Musik und schließlich einige reichlich unverschämte Einfälle wie die polnische Jazzband auf dem Rollfeld sorgen dafür, daß das Interesse des Zuschauers nie ganz erlahmt.
Ein ziemlich origineller Film insgesamt: Handfester, modischer, dilettierender Kintopp der mehr deutsche Wirklichkeit darbietet als alle anderen deutschen Filme, deren Hersteller lauthals vorgeben, sich ambitiös mit der deutschen Wirklichkeit zu beschäftigen.
Karl-Heinz Krüger: Nebel über Tempelhof
Der Abend (Berlin), 8.5.1963
Die Situation, die Tremper sich gewählt hat, verbietet die kontinuierliche Entfaltung von Geschichten. Eben die Unterbrechung der Kontinuität kennzeichnet diese Situation. Es ist eine Ausnahmesituation aber eine von der Art, die in jedem Moment eintreten kann und dann ein grelles Schlaglicht auf die scheinbar selbstverständlichen Abläufe des Daseins wirft. Nicht, daß er eine Ausnahmesituation gewählt hat, ist Tremper zum Vorwurf zu machen; berechtigt wären Vorwürfe, wenn er die Ausnahme der Regel gleichsetzte, statt aus ihr die Regel abzuleiten. Dieser Gefahr erliegt er überall da, wo er doch noch zu »Geschichten« Zuflucht nimmt. [...]
Solange Tremper aber nicht erfindet, sondern Gefundenes fixiert und arrangiert, gelingen ihm Ansätze zu einer bundesdeutschen Bestandsaufnahme. Nicht, daß in dem Film irgendwer irgendetwas repräsentiere oder symbolisiere. Nicht einmal auf den Zonenflüchtling, der bei Tempelhof immerhin nahegelegen hätte, ist Tremper verfallen. Jede Figur steht ganz nur für sich selbst (mit Vor- und Zunamen, wie Zavattini sagen würde); aber jede ihrer Äußerungen weist über sie hinaus, verweist auf Allgemeines. [...]
Die verschiedenen Episoden des Films, von denen Tremper die meisten am Drehort improvisierte, sind handlungsmäßig so gut wie gar nicht miteinander verknüpft, und dennoch werden sie durch eine latente Spannung im Gleichgewicht gehalten. Nie entschwinden die Vorgänge, die gerade nicht im Bild sind, aus dem Gedächtnis. Wie kein anderer deutscher Filmautor versteht Tremper sich auf die Konstruktion von Ellipsen: Er sucht die Figuren nie da wieder auf, wo er sie eine Viertelstunde zuvor verlassen hat; die erste Einstellung mit der er zu ihnen zurückkehrt, läßt spüren, was inzwischen geschehen ist.
Trempers Talent, den Eindruck von unverstellter Wirklichkeit von der Leinwand herab zu evozieren, beschränkt sich nicht auf die Wiedergabe treffender Sätze und Redewendungen. Er setzt unbekannte und allzubekannte Darsteller in Rollen ein, die ihnen und denen sie eine überzeugende Realität verleihen. Die Soubrette Karin Huebner erlebt man glaubwürdig als Starmannequin, den Schnulzensänger Bruce Low als Farmer; die Fadheit Alexandra Stewarts, die ihre französischen Regisseure immer wegstilisiert haben, wird hier in genauer Übereinstimmung mit der Rolle penetrant spürbar. (Dankbar bemerkt zu werden verdient auch, daß der englische Dialog zwischen der Stewart und Bruce Low weder synchronisiert noch untertitelt wurde!). [...]
Wann haben wir das zuletzt erlebt: daß man aus dem Film eines deutschen Regisseurs herauskam und Lust verspürte, bald seinen nächsten zu sehen?
pat [= Enno Patalas]: Die endlose Nacht
Filmkritik, Nr. 5, Mai 1963