Der Mann vom Kapuzinerboulevard (Celovek s bul'vara Kapucinov)
Westernparodie und Reflexion über die Magie des Films. In einem kleinen Westernstädtchen herrschen raue Sitten. Alkohol und Prügeleien sind im Saloon an der Tagesordnung. Eines Tages erscheint ein Fremder namens Mr. First mit einem Filmprojektor im Gepäck. Er eröffnet im Saloon ein Kino und bezaubert die Einwohner mit den frühen Filmen Lumières. Fortan trinken die geläuterten Cowboys nur noch Milch und es wird friedlich in der Stadt. Nur dem Saloonbesitzer passt dies gar nicht, da ohne den Verkauf von Alkohol seine Einnahmen ins Bodenlose sinken. Aber auch mit dem Diebstahl der Leinwand (dem einzigen weißen Bettlaken der Stadt) oder dem Abbrennen des Filmlagers kann er die Filmvorführungen, die sich bis ins Indianerlager rumgesprochen haben, nicht stoppen. Er setzt sogar einen bezahlten Killer auf Mr. First an. Erst als in dessen Abwesenheit ein weiterer Filmvorführer in die Stadt kommt, der grausame und brutale Filme zeigt, kehren die alten rohen Sitten wieder zurück.
A western parody, reflecting on the magic of film. In a small rowdy western town, drunkeness and fights in the Saloon are part of every day life. One day a stranger, named Mr. First, arrives with a film projector. He opens a cinema in the saloon and enchants the people with early films of Lumière. The town transforms into a peaceful place where reformed cowboys only drink milk. The saloon owner, who sees his income sinking drastically without alcohol sales, does everything he can to stop the screenings. But even after the screen (the only clean sheet in town) is stolen and the building where the films are stored is burnt, he cannot stop the screenings, which even the Indians have become fond of. He even unsuccesfully hires a killer to get rid of Mr. First. Only when Mr. First is out of town and another projectionist screens brutal and gruesome films are the rowdyness, drunkeness and fighting restored.
Auf dem Pariser Kapuziner-Boulevard, so ums Jahr 1895 rum, soll es laut Drehbuch geschehen sein, daß ein gewisser Mr. First vom Strahl der Erleuchtung getroffen wurde. Dieser Strahl entsprang einer grad von den Brüdern Lumière erfundenen und dort stationierten Apparatur, die alsbald ihren weltumspannenden Siegeszug sowohl als industrielle als auch ideelle Macht antrat.
Mr. First also spürte in seinem Innern Ruf und Berufung, und wie weiland Iskremas in Alexander Mittas Film Leuchte, mein Stern; leuchte zog er aus, den Massen die neue Kunst zu bringen. Mit sich führte er außer besagter Apparatur lediglich ein noch unbeschriebenes Buch, das dermaleinst die Geschichte der Kinematographie werden sollte, sowie den unerschütterlichen Glauben an die welt- und menschenverbessernde Kraft der Filmmuse.
Diese charmante Legende, so imaginär und wahr zugleich wie's eben dem Kino eigen und erlaubt ist, wurde bei Mosfilm von Autor Eduard Akopow und Regisseurin Alla Surikowa in Film über den Film verwandelt. So manches, was dem Kintopp lieb und wert ist, tummelt sich munter und unbekümmert um Genre-Reinheit im Präriestädtchen Santa Carolina: rauhbeinige Westernhelden, natürlich nebst den zugehörigen beineschwingenden Saloon-»Damen«, ein finsterer Postkutschenräuber namens Schwarzer Jack und auch die resolute, aber zarte blonde Unschuld, sowie last not least der Mann mit der Kurbel, der die Totalität all dessen, was Sein und Schein ausmacht, in seinem hölzernen Kasten eingefangen hat. Ein bißchen Western, ein bißchen verklärte Reminiszenz ans Kino vergangener Zeiten und viel Parodie, Ironie, Phantasie die Filmschöpfer haben kräftig hineingegriffen ins volle Filmleben. Titel, klassisch gewordene Szenen, berühmte Namen aus der Kinogeschichte werden zitiert und im großen Komödientopf durchgerührt. Und was zum gefälligen Genuß dabei rauskommt, ist durchaus original und originell für Gourmets von guter, alter Kino-Hausmannskost und für Leute, die keine Kostverächter in Sachen Humor sind.
Was der Zuschauer erblickt, stimmt als Klischee gemäß seiner Filmerfahrung und stimmt doch wiederum nicht in der ironischen Brechung. Folgende Szenerie beispielsweise ist allgemein bekannt: Potskutsche zuckelt durch die Prärie, plötzlich Schüsse, vermummter Bandit fordert mit vorgehaltener Pistole Geld oder Leben. Doch in diesem Fall wird vom Schwarzen Jack schriftlich die Beute quittiert; im Wilden Westen herrscht Ordnung.
Oder: Getreu dem Genre rauft man natürlich im Saloon nach allen Regeln der Kunst. Doch das Chaos ist auch streng bürokratisch geregelt. Jedes zerschlagene Tischbein wird dem Wirt vom Verursacher per Zuruf gemeldet, dieser notiert, summiert und wenn ihm die Summe erklecklich genug scheint, feuert er zwei Schüsse ab, und folgsam räumen die Raufbolde ihr »Spielzimmer« auf. Miß Diana Little als Star der Girltruppe ist, wie man sagt »uneinnehmbar wie Fort Knox«, doch dies nicht aus Hochmut, sondern weil sie es für selbstverständlich hält, »ein anständiges Mädchen«, sprich Jungfrau, zu bleiben. Dem schlitzohrigen Wirt steht naturgemäß der Sinn nach Profit, doch weint er Krokodilstränen einerseits, weil das Geschäft durch das Auftauchen des Fremden schlecht geht, andererseits fließen ihm Herz und Auge über infolge der veredelnden Magie des Kinematographen. Auch der obligatorische Indianerüberfall darf nicht fehlen, doch gilt dieser der Eroberung von Eintrittskarten. Alles ist vertraut, schon gesehen, und doch immer ganz anders.
Reflexionen über die Potenzen der Filmkunst als »moralische Institution« werden angeboten, aber nicht aufgedrängt, eher scherzend spielerisch benutzt. Gelingt es doch, dem untadligen Mr. First tatsächlich, aus einer Horde von Trunkenbolden ein milchschlürfendes, andächtiges Auditorium von Cinéasten zu machen. Doch wie wir nachgeborenen Kinogänger wissen: ein Wunschtraum. Versinnbildlicht hier durch den Eindringling Mr. Second, dessen demoralisierende Reißer das Werk des Mr. First zunichtemachen und den alten Streit über das, was Filmkunst kann, darf und soll, dokumentieren.
Cowboys, Colts und Kinematographie
Progress-Pressebulletin, Nr. 12, 1988