Leichen pflastern seinen Weg (Il grande silenzio)
Utah im Winter 1898. In Snowhill herrschen Hunger und Armut. Um zu überleben, begehen einige der Männer Überfälle und werden damit zu Gesetzlosen. Um den unbarmherzigen Kopfgeldjägern zu entgehen, verstecken sie sich in den Bergen. Als Paulines Mann von Loco, dem skrupellosesten Kopfgeldjäger, erschossen wird, engagiert sie den stummen Silence, um Loco zu töten. Silence musste als Kind mitansehen, wie seine Eltern von Kopfgeldjägern getötet wurden, ihm selbst wurde die Kehle durchschnitten, damit er nicht sprechen kann. Seitdem macht er Jagd auf jene, die unter dem Deckmantel des Gesetzes Menschen für Geld töten. Um nicht selbst ein Gesetzloser zu werden, reizt er seine Gegner so lange, bis sie die Waffe zuerst ziehen, um sie dann in Notwehr zu erschießen. Loco lässt sich allerdings nicht provozieren. Als der Sheriff den Hungernden in den Bergen Amnestie gewähren will, damit wieder Ruhe einkehrt, wird er von Loco getötet. Schließlich steht Loco zusammen mit den anderen Kopfgeldjägern Silence in einem unerbittlichen Showdown gegenüber.
Als Sergio Corbucci vor drei Jahren in seinem fast schon legendären #Django# den Colt, jenes klassische Requisit des Westernhelden, dessen virtuose Handhabung geradezu das bestimmende Kriterium seiner Qualität bildete, durch ein Maschinengewehr ersetzte, da war das mehr als ein bloßer Gag; indem das Töten nämlich, jeglicher Aura entkleidet, auf einen rein mechanischen Vorgang reduziert wurde, wurde die ohnehin schon stark ramponierte traditionelle Schießethik des Helden vollends ad absurdum geführt. Einem Maschinengewehr gegenüber wirken Eigenschaften wie Mut und Reaktionsvermögen ziemlich lächerlich.
In seinem neuen Film treibt Corbucci die Entmythologisierung der Gattung auf die Spitze. Die Regeln und Muster, auf deren Einhaltung die Vergnüglichkeit eines Spiels wie das des Western letztlich beruhte, werden radikal aufgelöst. Das Genre stellt sich selbst in Frage. Der Zuschauer sieht sich permanent irritiert, seine Kinoerfahrungen versagen vollständig angesichts der höchst beunruhigenden Vorgänge auf der Leinwand, nichts, aber auch nichts kommt so, wie er es gewohnt ist. [...]
Leichen pflastern seinen Weg ist ein radikaler, politisch aggressiver Film; es ist nicht nur die Landschaft, die an Spanien denken läßt, und zwischen Kinskis Schlußsatz, unmittelbar nach einem schlimmen Massaker gesprochen, »Wir haben nichts getan, was gegen das Gesetz ist«, und seinem ungemein blonden Haarschopf besteht ein offensichtlicher Zusammenhang; Corbucci demonstriert modellhafte Verhaltensweisen einer faschistischen Gesellschaft. Die hinterhältig triviale, mit extrem direkten Schockbildern durchsetzte Bildsprache schafft ein Klima permanenten Terrors. Man ahnt ständig Schlimmes, und es kommt noch weit schlimmer.
R. Ostendorf: Modell einer faschistischen Gesellschaft
Süddeutsche Zeitung, 6.-8.4.1969
Nichts stimmt mehr in diesem Film. Der Ablauf der Geschichte düpiert so ziemlich sämtliche Zuschauererwartungen. Die Verwirrung im Parkett ist überdies eine doppelte: Einmal präsentiert Corbucci mit schöner Selbstverständlichkeit jede Menge sadistischer Details. Er nimmt die Drehbuchanweisungen wörtlich. Ist vermerkt, daß einem der Daumen weggeschossen wird, sieht man tatsächlich einen blutigen Stumpf. durch die Luft wirbeln. Der selbst in diesem nicht eben zimperlichen Genre außergewöhnlich prononcierte Naturalismus der Inszenierung verwehrt dem Zuschauer jede mildtätige Ellipse. Die Köpfe rollen wie im Grand Guignol.
Doch würde man sich damit noch eher abfinden, wenn irgendwo in der Geschichte ein moralisches Alibi für das Zeigen solch ausgepichter Grausamkeiten zu finden wäre. Ist man doch geneigt, allerlei in Kauf zu nehmen, wenn schließlich doch noch ein im hintersten Winkel seiner schwarzen Seele irgendwie gutherziger Typ die Sache überlebt und in eine bessere Zukunft reitet, physisch und psychisch lädiert zwar, aber nach wie vor Identifikationsobjekt des Zuschauers. Django zum Beispiel, der zwar ungefähr so fair und liebenswürdig ist wie ein KZ-Schlächter, den aber noch die romantische Aura des Einzelgängers umgab, die allemal mit Sympathie honoriert wird.
Drei Jahre nach Django ist Corbucci klüger und ehrlicher geworden. Die Abscheulichkeiten, die er zeigt, erscheinen nunmehr als solche, werden nicht mehr fadenscheinig als imgrunde moralisch deklariert, indem ihnen irgendein Sinn unterschoben wird. Und präzis das sorgt für die Verwirrung im Parkett, mehr noch als der exaltierte Sadismus im Detail: Man nimmt an einer lustvoll blutigen Orgie teil, goutiert ihre Präzision und erschrickt am Schluß darüber, daß Corbucci tatsächlich nur eine sadistische Orgie gezeigt hat. Nicht einmal die Spur eines »Crime doesn't pay« ist noch zu finden. Das Chaos erweist sich als total, kein stoppelbärtiger Einzelgänger rettet mehr den schönen Schein, daß selbst in Cinecittà die Welt noch in Ordnung sei: Il grande silenzio, der Titel ist Programm. [...]'
Silence contra Loco, der einsame Rächer gegen den blutrünstigen Killer der Ablauf der Geschichte scheint durch die Personenkonstellation determiniert. Der Gunfighter erlegt einen Kopfgeldjäger nach dem anderen, er zieht schneller als alle, doch er hält sich an die Regeln. »Wenn Silence einen umlegt, dann nur in Notwehr«, heißt es im Dialog, insofern ist auch er eine romantische Figur.
Doch Corbucci entzieht sich den Regeln der herkömmlichen Dramaturgie. Lakonisch wird demonstriert, daß in einer Welt des Terrors allein der eine Chance hat davonzukommen, der sich nicht mehr um die Regeln schert. Loco bringt sie alle um: den Sheriff ebenso wie die Ausgestoßenen, schließlich auch den einsamen Rächer. Silence verendet kläglich mit durchschossenen Händen unter den Kugeln des Killers.
Die Verunsicherung des Publikums ist perfekt, Corbucci hat es vollendet düpiert, indem er sich selbst so wenig an die Regeln hält wie der überlebende Desperado des Films.
Die Rigorosität der Durchführung läßt Il grande silenzio als Italo-Western to end all Italo-Western erscheinen. Die dem Genre immanente Konsequenz, daß totaler Terror notwendig in eine finale tabula rasa münden muß, wird zum ersten Mal aufgedeckt Was soll danach noch kommen?
Hans C. Blumenberg: Der totale Terror
Sergio Corbucci: »Leichen pflastern seinen Weg«
Der Film, Nr. 4, April 1969