Sozialkritisches Drama um einen sizilianischen Gastarbeiter. In dokumentarisch anmutenden Bildern schildert der Film die trostlose Lebenswirklichkeit in Palermo. Um dieser Hoffnungslosigkeit zu entkommen und seine arme Familie zu unterstützen, geht der 17-jährige Nicola nach Deutschland, wo er Arbeit im VW-Werk in Wolfsburg findet. Trotz sprachlicher Schwierigkeiten kommt er gut in der neuen Heimat zurecht. Er verliebt sich in das deutsche Mädchen Brigitte. Doch als sie ihn verlässt, tötet der eifersüchtige Nicola seine vermeintlichen Nebenbuhler, um seine Ehre wieder herzustellen. Es folgt die Prozessverhandlung, der Nicola stumm folgt, da er zu wenig vom dem versteht, was um ihn herum vorgeht. Seine Verteidigerin möchte einen Freispruch erwirken. Doch am Ende gesteht Nicola seine Schuld ein und ergibt sich in sein Schicksal.
Sociocritical drama about a Sicilian gastarbeiter: In a documentary style, the film offers a look into life in the desolate reality of
Ein ungewöhnlicher, provozierender, wagnisreicher Film, der seinen Stoff nicht bloß (wie heute häufig) präsentiert, sondern gestaltet; und der bei dessen ästhetischer Formulierung [...] das Risiko eingegangen ist, nicht nur Erwartungen zu enttäuschen, sondern auch Formen zu sprengen und vor allem sozusagen mitten im Rennen die Gäule zu wechseln. Seine stilistische Wechselhaftigkeit (man glaubt am Ende in einem anderen Film zu sitzen als jenem, dem man zu Anfang zugeschaut hat); seine völlig undramatische Erzählweise, die sich eher horizontal, sammelnd und schweifend auf die Suche nach der Welt macht, als vertikal und mit dramatischen Steigerungen, Verwicklungen, Peripathien den Zuschauer (und sich) ins Korsett der Erzählkino-Dramaturgie zu spannen; und schließlich das unterschwellige emphatische Pathos, mit dem Schroeter die Passion seines Helden wider alle Alltagsvernunft behauptet und die kreatürliche Unschuld eines Menschen melodramatisch steigert, um gegen sie und ihn die Fremdheit und Verderbnis der Welt, die Kälte, die Oppression eines Landes, in dem die Menschen alle Gefühle in sich unterdrückt haben (Deutschland) desto provozierender, rücksichtsloser ausspielen zu können: das sind stachlige Widerborstigkeiten von Stoff und Form eines Films, die unseren geläufigen, oft unbewußten und ununterbrochen doch antrainierten Erwartungen an das Kino entgegenstehen. Ein Zwitterfilm weder in sich geschlossenes Experimental-, noch in sich fließendes Erzählkino. [...]
In der Tat ist Palermo oder Wolfsburg die <polemische Konfrontation> zweier Kulturen, Gesellschaften, Lebensweisen, und Schroeter versteht sich nicht als hin- und herreflektierender Vermittler, sondern als entschiedener Parteigänger, der ähnlich wie Werner Herzog in seinem Jeder für sich und Gott gegen alle mit Kaspar Hauser sich mit seinem Helden Nicola identifiziert.
Sicher: das ist eine Wunschprojektion Schroeters, eine Stilisierung, eine erzählerische Haltung zur Welt, die er jedoch radikaler zuende führte als Herzog. Denn je weiter der Film fortschreitet, desto entschiedener wird die Perspektive auf Nicolas Blick, seine akustischen Erfahrungen geführt. Der Weg von Palermo nach Wolfsburg zielt auch ins Innere Nicolas. Das hat jenen extremen Stilwechsel zur Folge, der auf viele so befremdlich wirkt.
Denn Palermo oder Wolfsburg beginnt semidokumentarisch wenn Schroeter mosaikartig Nicolas Heimat, seine Familie, Freunde, die Bewohner Montechiaros beschreibt. Keineswegs ein Paradies, ein widersprüchliches Ensemble, bereits im Zerfall begriffen, durchsetzt von Fremdbestimmungen, die auf den Namen »Germania« hören; aber eine lokale Kultur vornehmlich vermittelt über den heimischen Dialekt, die Körpersprache und die Musiken und Poesie des Dorfes.
Wenn Nicola auf dem Bahnhof in Wolfsburg steht wie vom Mond gefallen, da ist er nicht nur in der räumlichen Fremde, auch in der sprachlichen. Und über die Sprache und die Musik entwickelt Schroeter nun seine Polemik immer ausgreifender. In diesem Mittelteil des Films, in dem Nicola sich in ein deutsches Mädchen verliebt, das ihn jedoch nur zum Objekt ihrer Eifersuchtsspiele macht; in dem er Landsleute trifft, die in wechselnden Stadien unglücklicher Assimilation oder der Isolation leben, ändert der Film seine Stillage; er changiert zwischen Semidokumentarismus und satirischen Grellheiten und kulminiert in jenen Augenblicken, in denen Nicola, der die Männerkameraderie zweier angetrunkener junger Deutscher mißversteht, diese niedersticht und katatonisch erstarrt neben den Leichen verharrt. Jedoch erst der letzte Teil des Films die Gerichtsverhandlung, während deren Verlauf Nicola schweigt, in Erstarrung verfällt übersetzt Realität radikal in eine satirische Groteske, eine Phantasmagorie, die nun alle ästhetischen Bereiche des Films ergreift. Der Prozeß (in dem auch eine Frau Kafka am Rande auftritt), den Schroeter hier von »Palermo« gegen »Wolfsburg« führen läßt, gegen »ein Land, in dem es kein Licht gibt, keine Liebe, nur Arbeit«, faßt den Kampf einer Lebens-, Gefühls- und Ausdruckskultur gegen eine Kultur, die Leben nur noch verwaltet und unter abstrakten Begriffen begraben hat, in einem Furioso ikonografischer und akustischer Signale zusammen. [...]
Werner Schroeters Palermo oder Wolfsburg ist wie viele künstlerische Zeugnisse der letzten Jahre wie Bernward Vespers »Reise«, Rolf Dieter Brinkmann »Rom, Blicke«, Bölls »Katharina Blum« ein Plädoyer für die individuelle Identität, für deren Abweichung, ein Protest gegen die Tendenzen der Angleichung, Anpassung und Homogenisierung unseres Lebens in Staat und Gesellschaft. Er formuliert diesen Einspruch und Widerstand nicht allein bloß als Erzählung in Form eines Leidenswegs, parallel zu jenem sizilianischen Passionsspiel, an das sich Nicola im Verlauf der Geschichte immer wieder erinnert; sondern ebenso als ästhetische Struktur der Erzählung und Darstellung, die, sich verändernd, erst am Ende (wie Nicola) zu sich selbst findet und von uns erwartet, daß wir auf uns selbst mit den Augen, dem Kopf und dem Herzen des Anderen blicken: dem Fremden.
Wolfram Schütte: Als der Fremde blicke ich auf dieses Land
Frankfurter Rundschau, 22.3.1980