Erschütterndes Panorama des Lebens im Nachkriegs-Berlin. Der 13-jährige Edmund lebt zusammen mit seiner Schwester Eva, seinem bettlägerigen und ewig klagenden Vater sowie seinem Bruder, einem ehemaligen Wehrmachtssoldaten, der sich aus Angst vor der Polizei nicht gemeldet hat und daher auch keine Lebensmittelmarken erhält. So versucht der Rest der Familie mit allen Mitteln, genug zum Essen zu organisieren. Edmunds Schwester hält sich an die Soldaten der Besatzungsmacht, während Edmund lieber durch die Ruinen der Stadt streunt, um Waren zu besorgen, anstatt zur Schule zu gehen. Eines Tages begegnet er seinem ehemaligen Lehrer, der ihm erzählt, dass Schwache und Kranke kein Recht hätten, auf Kosten der Gesunden und Starken zu leben. Infiziert von diesen Gedanken sieht Edmund nur einen Ausweg aus dem Elend seiner Familie: Er vergiftet seinen Vater. Als er dem Lehrer davon erzählt und von ihm Zustimmung erhofft, stößt dieser ihn entsetzt zurück, auch aus Panik, man könnte ihn für die Tat verantwortlich machen. Verzweifelt und ohne Halt läuft Edmund durch die Trümmer Berlins und stürzt sich schließlich in den Tod.
A harrowing portrait of life in post- Second World War
Am Schluss sagte ein Zuschauer: »Ach, das arme Kind«, und ein anderer meinte verärgert »Was heißt hier armes Kind, das war ein deutsches Kind«. Das waren die ersten wahrnehmbaren Reaktionen, die ich am Ende der Premiere des Filmes Germania anno zero von Roberto Rossellini aufschnappte, der meist erwartete Film des dritten Filmfestivals von Locarno. Aber schon davor gab es eine unausgesprochene Reaktion: die kalte und erschütterte Stille des Publikums am Ende des Films; es sah so aus, als hätte jeder den kleinen Toten, der die letzen Bilder dominierte, in sich begraben. Es ist hier üblich, dass jede Vorführung mit einem zustimmenden oder zumindest höflichen Applaus endet; Germania anno zero hat ohne Händeklatschen geendet, die Leute waren verstört und betroffen.
Es ist einfach und zugleich ungerecht, zum Film »ja« oder »nein« zu sagen. Totale Begeisterung oder totale Ablehnung sind gleichermaßen falsch; die angemessenste Beurteilung ist tatsächlich gerade diese unruhige Gefasstheit des Publikums, welches sich Gedanken macht und schweigt.
Arturo Lanocita: Germania anno zero
Corriere della Sera, 10.7.1948
Wer Rosselini vor zwei Jahren in Berlin an der Arbeit sah und in seinen Straßengesichtern und Situationen das raffiniert gesiebte Rohmaterial wiedererkennt, aus dem die eigene tägliche Existenz bestand, ermißt die Größe seines Talents um so mehr. Erstaunlich, wie geschickt er in der fremden Stadt zu Werke ging und in kurzer Zeit die Essenz ihres Unglücks zu destillieren wußte, wie er jene unendlichen Trümmerperspektiven einfing, das Untermietergewimmel im halbeingestürzten Wohnblock, den Kampf mit der Bewag, die Zigarettenwährung, die schamlos gewordene Selbstsucht der Menschen, die hochbeinigen mageren Kinder mit dem Lumpenball unter Müll und Schutt. Wie das Innere der Häuser, wie die Rohre und Leitungen, Keller und Kanäle dem grellen Sonnenlicht erbarmungslos ausgesetzt sind, so liegen auch die Nerven der Menschen bloß, so hat sich ihr Instinkt von der Kontrolle des Gefühls und Verstandes befreit. Berlin im Jahre Null. Hier fängt alles von vorn an. Hier ist alles im Rudiment vorhanden: modernste Großstadt und prähistorische Existenznot.
Diesen Hintergrund eindringlich zu schildern, gelingt Rosselini durch eine Mischung von Kunstwerk und Dokument, die seine früheren Filme auszeichnete. Scheinbar zufällige neben ausgeklügelten Effekten ergeben eine seltsam erhöhte Wirklichkeit. Viele Schicksale werden angedeutet, nur wenige zu Ende geführt. Handlungsfetzen blinken allerorten auf und vermitteln jene Unruhe, jene hektische Spannung, die das Nachkriegsberlin erfüllt. [...]
Dennoch krankt dieses Werk Rosselinis an einem Übel, das seinen Erfolg, ja, selbst seine Aufführung in Deutschland zweifelhaft macht. Bei einem überaus geschickten Drehbuch, bei meisterhafter Photographie und rhythmisch vollendetem Schnitt, leidet es an einem Dialog, dessen Steifheit ein deutsches Publikum verletzen muß. Überdies ist die völlige Ausweglosigkeit, der Verzicht auf jegliche Befreiung aus der Qual, keine gute Medizin für ein aufbaubedürftiges Volk. Im eigenen Unglück zu waten, ist schädlich. Es ist selbst gefährlich, im fremden Unglück zu waten. Gefährlich also auch für Beschauer außerhalb Deutschlands, die in der Schilderung des Jahres Null den Zustand unserer gesamten Zivilisation versinnbildlicht finden.
Hilde Spiel: Film im Jahre Null
Die Welt, 26.4.1949
Es ist ein erschütternder Film... aber nicht seines künstlerischen Gehalts halber. Sondern, weil es erschütternd wäre, wenn die Welt das neue Deutschland durch die Brille Rossellinis sähe.
Der Titel allein entkräftet, was Rossellini zu seiner Entschuldigung vorbringen könnte. Daß er einen Einzelfall wählte... was ja das Recht des Künstlers ist. Der Titel jedoch besagt: »Hier zeige ich euch Deutschland nach dem Zusammenbruch. Heute mag es anders sein. Aber so fanden wir Deutschland, so war es im ›Jahre Null‹.«
Es ist also kein Einzelfall. Aber da es kein Einzelfall ist, läßt sich die Fälschung ohne weiteres nachweisen. So war Deutschland im Jahre Null nämlich nicht und das kann ich bezeugen, der ich es sah, während Signor Rossellini »im Jahre Null« noch allerhand Mühe hatte, den Besatzungsmächten und Italiens tapferen Untergrundkämpfern seine eben erst eingebüßte Begeisterung für den Faschismus zu interpretieren.
Ein anti-deutscher Film? Auch wieder nicht. Überhaupt kein Film mit einer Tendenz... bloß von einer Frivolität, die schlimmer ist als alle Absicht. Gewiß: es gab in Berlin um das Jahr 1945 allerhand erschreckliche Erscheinungen. Kleine Jungen, die Schwarzhändler waren, Prostituierte, Homosexuelle, vielleicht auch unmündige Mörder. Tief hatte sich das Gift zwölf giftiger ‚Jahre eingefressen. Dennoch gab es tausende Kinder, die ihre kranken Väter durchfütterten; hunderttausende Mädchen, die anständig blieben, Millionen Frauen, die den Schutt wegräumten... in mehr als einer Hinsicht. Sie alle sah Roberto Rossellini nicht. Instinktiv wählte er den richtigen Titel. Es war das »Jahr Null«... in dem Sinne, in dem Null gleichzeitig Ende und Anfang ist. Für Roberto Rossellini aber gab es nur das Ende, den einen krassen, dramatischen Fall... und das Geschäft, das sich an das Wort »Germania« knüpft.
H. H. [= Hans Habe]: Deutschland im Jahre Null eine Frivolität
Rheinische Post (Düsseldorf), 17.9.1949