Klassentreffen des Abiturjahrgangs 1979 in Stuttgart-Möhringen. Man sitzt zusammen und erzählt alte Geschichten. Doch drei fehlen, und vor allem an sie soll erinnert werden: Thilo, Rudi und Tilmann. Alle drei sind freiwillig aus dem Leben geschieden. Thilo, der Revoluzzer und Musiker, der der RAF nahestand und dann Medizin studierte. Rudi, der Einser-Kandidat, zunächst Jura-Student, doch dann brach er nach Schottland auf, um als Assistent an einer Universität zu arbeiten. Nach einem Jahr kehrte er nach Stuttgart zurück, kränkelnd und kraftlos, kurz darauf ist er tot. Tilman verließ das Gymnasium nach der 11. Klasse und machte eine Schlosserlehre. Um sich dem Bund zu entziehen, ging er nach Berlin. Eines Tages geht er in eine Garage, lässt den Motor des Autos laufen und stirbt an Kohlenmonoxidvergiftung. Thilo bezichtigte sich, der Mörder seines Freundes zu sein, doch es bleibt unglaubwürdig. Wenig später tötete er sich auf gleiche Weise wie Tilman. Eine dichte Schilderung der Atmosphäre der 1970er Jahre mit Konflikten und Hoffnungen.
Wie die Freunde haben auch Vater, Mutter oder auch beide Elternteile von Rudi, Thilo und Tilmann Auskunft gegeben. Sie haben ihre oft schmerzlichen Erinnerungen mitgeteilt. Und doch hat Thilos Schwester Britta den Film als »große Chance« gesehen, daß da jemand gekommen ist und sich noch einmal mit dem Schicksal des Bruders beschäftigt hat. »Das hat bei der Trauerarbeit geholfen.« Fast so, als beschwöre das intensive Nachdenken über die Toten noch einmal deren Gegenwart.
Und für Andres Veiel, der nur noch zu Besuch nach Stuttgart kommt, war wichtig, trotz aufgerissener Wunden »weiter durch Möhringen gehen zu können«. Aber dem Filmemacher, der 1994 mit dem Dokumentarfilm #Balagan# beim Bundesfilmpreis das Filmband in Silber bekam, wußte, daß auch dieser Film nur gelingen, kann, »wenn er an die Schmerzgrenze herangeht«. Eine Gratwanderung.
Denn der 36jährige Regisseur will auch die Geschichte seiner Generation erzählen. »Wir haben gleichzeitig aufs Gas und auf die Bremse getreten. Dabei kann nur eine Generation mit Getriebeschaden herauskommen«, beschreibt er das Lebensgefühl derer, die »zwischen Rebellion und dem Wunsch, geliebt zu werden«, lebten.
Hilke Lorenz: Zwischen Gas geben und bremsen
Stuttgarter Zeitung (Sonntagsbeilage), 18.8.1996
In einem sehr persönlicheren Dokumentarspielfilm mit dem vielleicht unangemessen pathetischen Titel DIE ÜBERLEBENDEN versucht er das »Porträt einer Generation« zu zeichnen, »die scheinbar durch den Rost der Geschichte gefallen ist«. Die »Überlebenden« – wenn man sie so nennen will –, also Bekannte, Freunde, Eltern, Geschwister, Arbeitskollegen, erzählen von den eher unspektakulären Rebellionen und Verweigerungen der drei Selbstmörder: traurig, unsicher, mitfühlend manche; andere aus der besserwisserischen Arroganz wohlgeordneter Lebenseinrichtungen. Die Toten wirken ein bißchen undeutlich – ganz wie echte Menschen.
»Ich denke, daß der Film mehr erzählt als nur die drei Biographien der Selbstmörder«, sagt Andres Veiel. »Da geht es um Stammheim, um diesen Sturm und Drang der siebziger Jahre. Dann gibt es Sachen, die in die achtziger Jahre weisen: diese ganz vorsichtigen Versuche von Rudi zum Beispiel, sich dem Auto zu verweigern. Das Thema Auto schleicht sich durch den ganzen Film: Tilman und Thilo brachten sich mit Autoabgasen um. Rudi schrieb einen Leserbrief an die Zeitung, in dem er gegen Mercedes protestierte, und wurde dafür belächelt. Beim Vater von Rudi lief der Einstieg über sein Auto. Zuerst wollte er gar nichts sagen; dann sagte er, er würde sich gern mit dem Auto filmen lassen. Und dann steht er vor dem Wagen, für den er sieben Tage die Woche 16 Stunden gearbeitet hatte, und sagt: ›DieserWagen hat mich nie verlassen.‹ – Mein Sohn hat mich verlassen, ist dann der Subtext dazu.«
Detlef Kuhlbrodt: Die Überlebenden
Die Tageszeitung, 19.9.1996
Eben waren sie noch eine Gemeinschaft, nun steigt jeder in sein Auto, in seine eigene kleine Blechschale. Und obwohl sie noch ein Stück Wegs gemeinsam fahren, weg von ihrem Klassentreffen, ist jeder schon für sich allein, sind sie Isolierte auf dem gleichen Kurs – eines von vielen Bildern, die Andres Veiel in seinem Dokumentarfilm DIE ÜBERLEBENDENfür die Befindlichkeit seiner Generation, des Jahrgangs 1959/60, findet. Diese Abfahrt von der Stuttgarter Solitude bekommt aber noch eine ganz andere Dimension. In der Dunkelheit verschwimmen die Konturen der Wagen rasch, man sieht nur noch ihre Rücklichter schweben, und die wirken nun wie ewige Lichtlein – wie eine Erinnerung an die Sterblichkeit, die jedem dieser Davonfahrenden gespenstisch durch die Nacht zu folgen scheint. In den #Überlebenden# geht es zunächst auch um die Toten, um drei Klassenkameraden von Regisseur Veiel, die Selbstmord begangen haben.
Aber das starke Bild der nächtlichen Fahrt ist kein Produkt des Zufalls, Veiel und Kameramann Lutz Reitemeier haben es inszeniert. Mehrfach mußte die Szene wiederholt. werden, die Teilnehmer mußten eigens dafür noch einmal zusammenkommen.
Diese Art der Inszenierung ist bei einem Dokumentarfilm eine heikle Angelegenheit, ebenso heikel wie das Herumstöbern in den Biographien der Toten und der Hinterbliebenen, der Freunde, Bekannten und Verwandten. Aber Andres Veiel meistert die Tücken der Methode und den Widerstreit von Takt und Wahrheitssuche. Er verschmilzt Essay und Recherche und löst dabei seinen Anspruch ein, nicht Privatheit zu entblößen, sondern am Beispiel der Einzelleben die Krise einer Generation offenzulegen.
tkl [= Thomas Klingenmaier]: Isolierte auf dem gleichen Kurs
Stuttgarter Zeitung, 19.9.1996
Der Regisseur Andres Veiel zählt zu der Generation der Kinder, deren Väter noch im Krieg gewesen sind. Für ihn und seine Klassenkameraden fingen die Kämpfe ums Ganze zu Hause an, bei den Auseinandersetzungen um die Schuld der Väter. Aber es gab keine Achtundsechziger-Bewegung mehr, der Veiels Altersgenossen sich hätten anschließen können. Draußen vor der Tür lagen Stuttgart-Stammheim und der »deutsche Herbst«. Es herrschte, was Wolf Biermann »die Sympathisantenhatz« genannt hat. Thilo und Andres Veiel haben die Prozeßverhandlungen deutscher Terroristen besucht. Thilo machte sich weis, sein Vater sei ein NS-Richter gewesen, ein Scherge des Systems, das die Gaskammern einrichtete. Weil er in den Augen des richtenden Vaters schließlich doch bestehen wollte, studierte er Medizin. Dabei war er selbst krank in seiner Seele. Er starb 1990 – wie sein Freund Tilman – im Kohlenmonoxyd. In einer Garage hatte er stehend so lange ausgeharrt, bis sein Körper zu Boden fiel.
#Die Überlebenden# ist ein erschütternder Film. Er folgt dem Schicksal der drei jungen Männer, beschreibt sie, wie sie durch ihre Jugend stolpern, wie sie abzustreifen suchen, was sie beschwert, und wie jeder von ihnen am Ende von der Geschichte eingeholt wird, die ganz allein seine eigene ist und dabei doch so deutsch. Vieles bleibt unausgesprochen, nicht nur aus Rücksicht auf die Hinterbliebenen: Schlagworte, die Schlagzeilen machen, würden verstellen, worum es Veiel geht. Das drückt sich aus in den Gesichtern derjenigen, die er befragt hat. Es ersteht in den Bildern des grünen Schottland, der Vollzugsanstalt Stammheim, der heimischen Wohnzimmer.
Franziska Augstein: Durch die Jugend stolpern
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5.10.1996
Wenn sich die ÜBERLEBENDEN, die Kamera nah auf ihren Gesichtern, zu ihren verdrängten Erinnerungen an die Toten vortasten, stockt dem Zuschauer manchmal der Atem. Aber der Film erzeugt keine Betroffenheitsstarre. »Bescheiß ich nicht die Krankenkasse?«, fragte sich Andres Veiel während der Dreharbeiten manchmal sarkastisch. »Mach ich vielleicht eine 750.000 Mark teuere Eigentherapie?« Doch die Veielsche Nachrede auf seine Klassenkameraden bleibt nicht in persönlicher Aufarbeitung stecken. Sie dokumentiert auch Zeitgeschichte. Sie porträtiert jene dritte, um 1960 herum geborene westdeutsche Nachkriegsgeneration, die es »besser haben« (und besser machen!) sollte als ihre Eltern. Die Karrieren der »guten Söhne« als Ärzte, Juristen mußten späte Krönung entsagungsvollen elterlichen Wiederaufbaufleißes sein. Beständig unter himmelhoch gehängten Meßlatten durchzuhechten, zeichnet schon ihr Heranwachsen aus. Ihre Väter blieben ihnen fremd, weil sie nie zuhause waren. Aber sie gaben auch kein klares Feindbild mehr ab, gegen das man wüten konnte, weil sie keine NS-Täter waren. Statt Dialog zwischen den Generationen auch hier: bleiernes Schweigen.
Annette Wagner: Fragen stellen wider das bleierne Schweigen
Freitag, Nr. 45, 1.11.1996