Klassiker des experimentellen Essayfilms. Eine Frauenstimme liest die Briefe des (fiktiven) Kameramannes Sandor Krasna vor, der von seinen Erlebnissen vor allem in Japan und Afrika erzählt. Die Beschreibungen werden in Montagen von Gedanken, Bildern und Szenen begleitet, wobei der Wechsel von Themen und Orten frei fließend ist. Dabei entsteht ein essayistisches Reisetagebuch, in dem auch immer wieder das Filmen selbst und die Videotechnik thematisiert werden. Assoziationen werden gebildet, über Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart, aber auch zwischen den verschiedenen Orten. Dabei bleibt der Film fragmentarisch und überlässt das Interpretieren dem Zuschauer.
Chris Marker ist ein Filmemacher auf Reisen, ein Dokumentarist, ein Ethnologe, ein Poet. Man hat ihn auch einen Bilderjäger genannt, einen revolutionären Propheten, einen Weltbürger, einen Verwandten von Malraux, Saint-Exupéry, Camus, Cendrars und Jules Verne. Sein Kino läßt sich auf viele Begriffe bringen: also auf keinen. Er selber nennt sich: neugierig.
Chris Marker sammelt Bilder, überall auf der Welt. Er arrangiert sie nicht zu den Berichten eines wissenden Korrespondenten. Er denkt über sie nach, setzt sie in überraschende Verbindungen zueinander, verwirft sie wieder, ordnet sie neu. Er verwendet die disparatesten Elemente: Grobkörnige Super-8-Aufnahmen stehen neben den raffiniertesten elektronischen Verfremdungen, pathetische Bilder neben ironischen, afrikanische neben japanischen, Neon-Zeichen neben Stammesriten, Comicstrips neben Zitaten von Lévi-Strauss. Chris Marker behandelt die Welt als Fundsache. Vieles bleibt rätselhaft, geheimnisvoll. Mit Marker reisen heißt: sich auf ein Abenteuer ohne Gewißheiten einlassen. [...]
SANS SOLEIL – der Titel bezieht sich auf eine Komposition von Modest Mussorgskij, ohne daß er deshalb deutlich würde – ist das intime Tagebuch eines Bildersammlers, eines Fetischisten, der von der »magischen Funktion des Auges« spricht. Marker ist den Bildern verfallen, aber er traut ihnen nicht. Sie bleiben flüchtig, unbestimmt, manchmal auch schroff abweisend. Marker liebt die »Impermanenz der Dinge«. Er sagt: »Die Poesie entsteht aus der Unsicherheit«. Er zeigt vom Synthesizer bearbeitete Video-Bilder seines japanischen Freundes Hayao Yamaneko [= Marker], der dokumentarische Aufnahmen von schon historischen Studenten-Revolten elektronisch verfremdet hat: »Weniger verlogene Bilder, sagte er mit der Überzeugung der Fanatiker, als die Bilder, die du am Fernsehbildschirm siehst. Sie wollen eben sein, was sie sind, nämlich Bilder, nicht die transportierbare, kompakte Form einer schon unerreichbaren Wirklichkeit.«
Wie kann man die Wirklichkeit filmen, mit 24 Bildern in der Sekunde, von denen das richtige, das authentische vielleicht nur einen Bruchteil dauert? Der Blick eines Mädchens auf einem Markt im afrikanischen Bissau: Er läßt Marker nicht mehr los. Kann man ihn überhaupt festhalten? Marker, der intellektuelle Voyeur, der Freund und Mitarbeiter von Alain Resnais, Agnes Varda und Jean-Luc Godard, untersucht die Natur des Kinos.
Mit Resnais, der die Spuren der Wirklichkeit an Orten suchte, die Marienbad und Hiroshima hießen, verbindet Marker eine Faszination an »der Erinnerung, die nicht das Gegenteil des Vergessens ist, sondern vielmehr dessen Kehrseite. Man erinnert sich nicht, sondern man schreibt das Gedächtnis um, wie man die Geschichte umschreibt. Wie sollte man sich an den Durst erinnern?« So wird am Ende auch das Dokumentarische zur Fiktion, zur Illusion. Alle Gewißheiten lösen sich auf. Was bleibt, ist der widerspenstige Reichtum der Bilder, auf die nie wird Verlaß sein können.
Hans-Christoph Blumenberg: Die Welt als Fundsache
Ein unmöglicher Film: Essay, Tagebuch, Expeditionsbericht
Die Zeit, Nr. 36, 2.9.1983
Hier spekuliert einer vor sich hin, der die Welt, wie alle großen Humanisten, aus ihren Extremen erklären will. Das verbietet die Klischees, die ja allemal schon zugeklebt sind vom schönen Schein gesellschaftlicher Selbstverklärung. Darum der Zugriff aufs Banale, auf das Herzzerreißende der Dinge, in dem eine jede Gesellschaft gegen ihren Willen zu sich selber kommt.
Also keine Bilder von der leuchtenden Zivilisation japanischer Technologie; kein Hindeuten auf die dicken Bäuche verhungernder Kinder in der Sahel-Zone. Dergleichen liefern die Voyeure, die professionellen Ausbeuter folgenlosen Mitleids. Marker hält sich nicht auf beim Schauspiel des Elends; er will die Bilder entziffern, die die Welt ihm darbietet – zufällig, planlos. Nur dadurch kann man mit den Dingen kommunizieren, daß man in sie eindringt. Auch das klingt im ersten Moment banal. Aber wenn man den Gedanken zu Ende denken könnte, wie Marker es versucht, dann stünde die Welt auf einmal Kopf.
Denn es geht um den Blick, mit dem man eindringt in die Dinge und Zeichen. Und dieser Blick kann alles verändern. Denn auch die Geschichte des Sehens hat ihre Konvention, und wer sie bricht, bricht mehr als nur eine Konvention. Die Dinge und die Gesichter blicken zurück, wenn man mit ihnen kommuniziert, indem man ihren äußeren Anschein entziffert. Denn hinter jedem Gesicht verbirgt sich ein Gedächtnis. »Wo man uns glauben machen möchte, daß ein Kollektivgedächtnis entstanden sei, sind tausend Gedächtnisse von Menschen, die ihre persönliche Zerrissenheit in der großen Zerrissenheit der Geschichte umhertragen.« [...]
Es macht die Größe dieses Films aus, daß er einen Gedanken nicht nur mit Bildern illustriert, sondern ehrlich in Bildern denkt. So kommt er zwangsläufig zu anderen Ergebnissen als sie der Ansatz versprach. Aber trotz seiner Aufrichtigkeit wird Marker am Schluß etwas nervös. Immer hektischer reist er hin und her, zieht andere Weltenteile mit in den Vergleich seiner beiden extremen Pole des Überlebens, ohne daß dadurch mehr Klarheit zu gewinnen wäre. Marker ist auf ein Ziel fixiert, das ihm doch immer mehr entschwindet.
Aber wer könnte schon die ganze Menschheitsgeschichte in 100 Minuten Film erklären. So sieht der Zuschauer am Ende vielleicht klarer als der reisende Philosoph, der allmählich eine Grundwahrheit des Reisens übersieht: daß nämlich das Aufregende der Reise nicht das Ziel, sondern der Weg ist. Auch dies ist eine Erkenntnis, die uns in der Verfügbarkeit des Raums und der noch unbeglichenen Rechnung der Zeit abhanden zu kommen droht.
Peter Buchka: Das Herzzerreißende der Dinge
Chris Markers wundervoller Filmessay »Sans soleil«
Süddeutsche Zeitung, 27.4.1984