»Overlord« ist das Kennwort der Alliierten für die Pläne der Invasion in der Normandie zur Befreiung Europas im Juni 1944. In einer Mischung aus Dokumentaraufnahmen und Spielszenen erzählt der Film die Geschichte des jungen Engländers Tom Beddows von der Einberufung bis zum Kriegseinsatz. Tom kommt aus der heimatlichen Kleinstadt nach einer langen Zugfahrt in die Kaserne und wird dort zum ersten Mal mit militärischem Drill und Kriegsübungen konfrontiert. Er durchläuft die Grundausbildung und wird schließlich an die Front transportiert. Als er auf einem Dorffest ein Mädchen kennenlernt, gelingt es Tom für kurze Zeit den Krieg zu vergessen. Aber der Krieg kommt näher. Und immer stärker werden Toms Vorahnungen, dass er seinen ersten Einsatz nicht überleben wird. Dann ist der D-Day da und Tom sitzt im Landungsboot.
Es ist ein nicht geringes Wagnis, filmische Dokumentation und spielerisches Geschehen zu mischen, Historie also mit Fiktion zu verbinden. Stuart Cooper, der sich vor Jahresfrist mit seinem problematischen Film MALCOLM PROBT DEN AUFSTAND in Berlin vorgestellt hat, traute es sich zu, beide Ebenen filmischer Darstellungsmöglichkeit zu vereinen, wozu er sich auf der einen Seite vorzüglichen dokumentarischen Materials bediente, das ihm das Londoner Kriegsmuseum zur Verfügung gestellt hatte, auf der anderen Seite, gleichsam die Lücken füllend, eine in Kriegstagen spielende Geschichte ablaufen ließ. Und dabei traf er die Atmosphäre, den Ton der Zeit durchaus überzeugend, zumal er die Sinnlosigkeit und Brutalität militärischen Drills ebenso darzustellen vermochte, wie er die sentimentalen Schwingungen am Rande jener ernsten Tage dezent anzudeuten wußte. [...]
Eindrucksvoll in jedem Falle die strategische Konzeption, die soldatische Präzision und die Demonstration militärischer Macht. Gegen diese Szenen der Gewalt und der Grausamkeit hat Stuart Cooper mit ganz zarten Strichen die individuellen Episoden gesetzt, in denen ein sensibler Junge eingezogen, ausgebildet und an die Kanalküste eingeschifft wird, an der er alsbald seinen Tod findet, einen Tod, den er lange schon vorausgeahnt hat.
Wenn auch die Verbindung dieser Szenen mit ihrer Behutsamkeit und des historischen Materials von beklemmender Gigantik durchaus gelungen ist, so muß das Unternehmen letztlich doch fragwürdig bleiben, da Coopers Intentionen nicht so recht zum Tragen kommen. Verdammt er den Krieg grundsätzlich? Will er die Kriegslast beweisen, unter der nicht zuletzt auch England zu klagen hatte? Oder möchte er das Leiden des Individualisten unter der Masse demonstrieren? Wie dem auch sei, die Bilder sprechen eine harte, unerbittliche Sprache.
Volker Baer: Kennwort Overlord
Der Tagesspiegel, 1.7.1975