Einziges Filmdokument über die Ereignisse in Leipzig vom 16. Oktober bis 7. November 1989. Ausgehend von den Massendemonstrationen der Bevölkerung und den dort erhobenen Forderungen zeichnet der Film in einer Vielzahl von Begegnungen und Interviews ein Bild vom Denken und Fühlen in Zeiten des gesellschaftlichen Umbruchs in der DDR. Demonstranten, Arbeiter, Vertreter des Neuen Forums, Theologen, Volkspolizisten und ihre Vorgesetzten, Häftlinge, Straßenfeger und Staatsfunktionäre äußern sich zu den Vorgängen in jenen Tagen. Daneben werden auch die gewalttätigen Übergriffe der Sicherheitskräfte, insbesondere der Volkspolizei, rekonstruiert.
Als Eröffnungsbeitrag wurde in Abänderung des Programms LEIPZIG IM HERBST gezeigt, ein Versuch, die Ereignisse um den 9. Oktober in Leipzig zu rekonstruieren. Demonstranten wurden befragt, Arbeiter, viele andere. Nachdenklich aber machten vor allem die Aussagen wehrpflichtiger Bereitschaftspolizisten, die ihren traumatischen Zustand offenbarten, damals eine Politik hätten verteidigen zu müssen, die nicht die Ihre war. Die sich heute für ihre Einsätze schämen. Abschließende Frage an einen hohen Offizier: Wenn die Zurücknahme des Einsatzbefehls nicht rechtzeitig gekommen wäre? »Dann hätten wir die Demonstration aufgelöst …«
Ein Festivalauftakt voll Nachdenklichkeit und Betroffenheit.
U.T.: Leipzig im Herbst – ein Auftakt voller Gefühle
BZ am Abend, 25.11.1989
Die Bilder sind erst vier Wochen alt, und doch stammen sie aus längst vergangener Zeit. Montagsdemo vom 16.10.: Die Leute fordern Reisefreiheit. Lachen im Saal. Noch mehr Gelächter erntet Herr Henze von der SED-Bezirksleitung im gleichzeitig von Studenten gedrehten Leipzig-Film ES LEBE DIE R...: »Keiner tritt zurück«, sagt er mit Nachdruck. Die Bezirksleitung ist längst zurückgetreten – Filmszenen als Beweisstücke für die rasende Geschwindigkeit, mit der die DDR sich ändert. Die meisten der Befragten, vom Müllmann bis zum Superintendenten, brauchen ein, zwei Sätze lang, bis sie vom offiziellen DDR-Jargon zu eigenen Worten gefunden haben.
Christiane Peitz: Leipzig im Herbst
Die Tageszeitung, 27.11.1989
Trotzdem: Es ist schon ein seltsames Gefühl, aus dem Kinosessel heraus, Vorgänge zu erleben, an denen man so oder so ähnlich in den letzten Wochen, Tagen, Stunden selbst beteiligt war, ist. Das hat das Leipziger Festival bis zu diesem 32. Mal noch nicht gesehen: Die Helden der Leinwand sitzen im Kinosaal, die Schauplätze sind fünf Minuten Fußweg entfernt auf den Straßen, wo montags die Leipziger ihre Forderungen anmelden, ihre Angebote machen: Unsere Arbeit steckt in diesem Land, wir lassen uns nicht kaputtmachen! Wir haben ein Recht aufs Mitreden, aufs Mittun! Die Kamera fährt mitten durch die Menge der Demonstranten, die Bilder dokumentieren Aufbruch aus Schweigen, Bevormundung, verordneter Sprachlosigkeit. Die Rede ist vom Film LEIPZIG IM HERBST, seine Schöpfer nennen ihn bescheiden ein Material zum Tage. Und einem Puzzle gleich setzt sich auch das Bild zusammen, ein sehr differenziertes, widersprüchliches, sich bewegendes. Uninszeniert. Hier sprechen Menschen, die endlich was zu sagen haben wollen, weil sie wirklich was zu sagen haben für ihre Stadt, ihr Land. Und so aufrichtig, offen, ungeschminkt, wie sie das vor der Kamera tun, sind das sehr bewegende und hoffnungsvolle Szenen.
Renate Treide: Leipzig 89: Mittendrin
Volkswacht (Gera), 28.11.1989
Am Montag fiel ein Schatten auf das Leipziger Festival. Hunderte Filmemacher und Journalisten waren zum Karl-Marx-Platz gekommen, um den demokratischen Aufbruch nicht nur im Kino, sondern auch hautnah auf der Straße miterleben zu können. Von hier, vom allwöchentlichen Protest, gingen wesentliche Impulse für die Erneuerung des ganzen Landes aus; Leipzig, von Christoph Hein emphatisch Heldenstadt genannt, gilt als eigentlicher Geburtsort des radikalen Wandels.
Doch was sich nun, in der siebten Woche einer neuen Zeitrechnung, zwischen Oper und Gewandhaus zutrug, hinterließ bei den meisten Gästen eher Betroffenheit. Offensichtlich wurde, daß die Forderung nach demokratischen Freiheiten während der Montags-Demonstrationen zunehmend in einen undifferenzierten Wiedervereinigungstaumel mündet. Schlimm die Aggressivität der Stimmungsmacher in der Nähe des Mikrofons. Wer von den Rednern auch nur eine Silbe des Bedenkens gegen die Verschmelzung beider deutscher Staaten erhebt, wird niedergepfiffen und -gebrüllt. Habe ich in Leipzig die Keime einer Massenpsychose gesehen?
Ralf Schenk: Die bittere Wahrheit
Weltbühne, 12.12.1989
Andreas Voigt befragt den Leipziger Polizeikommandanten. Der antwortet gespielt selbstsicher: »Wir haben das Einsatzkonzept sorgfältig diskutiert und auf die Situation abgestimmt.« Einen eindeutigen Befehl zur »Niederschlagung der Konterrevolution« oder gar einen Schießbefehl habe es am 9. Oktober nicht gegeben. Helme, Schilder und Waffen seien nur zum vorsorglichen Schutz der Einsatzkräfte ausgegeben worden.
Doch die Art, wie Voigt das Interview inszeniert hat, läßt Mißtrauen gegenüber den Aussagen aufkommen. Der Kommandant ist nicht allein im Bild, rechts vor ihm sitzt ein zweiter Polizeiführer. Sie reden abwechselnd. Während einer spricht, macht der andere Notizen, kontrolliert die Worte seines Kollegen. In dieser simplen Einstellung wird das ganze, stalinistisch geprägte Überwachungssystem der Honecker-Ära sichtbar (Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser!).
Heute wissen wir, daß die beiden Polizeioffiziere gelogen haben. Tatsächlich waren damals in Leipzig alle Vorbereitungen bis hin zur Bereitstellung von zusätzlichen Blutkonserven in den Kliniken für eine gewaltsame Zerschlagung der Bürgerproteste getroffen worden. Nur durch Vermittlung auf höchster Ebene konnte in letzter Minute ein Blutbad vermieden werden.
Ute Thon: »Die standen immer über dir«
Medium, Nr. 1, Januar - März 1990
In einem Insert heißt es: »Bei Demonstrationen der Bevölkerung in den Tagen um den 7. Oktober, dem 40. Jahrestag der DDR, kam es zu Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften. In diesen Tagen war niemand von uns mit der Kamera dabei. Wir haben es nicht vermocht …« Schon beim ersten Ansehen des Films im Eröffnungsprogramm der Leipziger Dokumentarfilmwoche stellte sich mir, und nicht nur mir die Frage, weshalb haben sie es denn nicht vermocht? Fehlte ihnen die Drehgenehmigung? Was anzunehmen ist. Oder steckte der Mechanismus: erst Auftrag, dann drehen, ihnen schon so tief in den Gliedern? Das Problem ist sicher vielschichtig. Nicht zuletzt liegen da auch Ursachen in den umständlichen Produktionsstrukturen der DEFA. Aber es handelte sich immerhin um eine einmalige historische Situation. Und wie viele wertvolle Filmdokumente sind in der ganzen Welt eben gerade in solchen Situationen entstanden. Das hat mich doch sehr nachdenklich gestimmt.
Beate Schönfeldt: Leipzig im Herbst
20. internationes forum des jungen films, Berlin 1990