Experimenteller »Agitationsfilm« der ’68er-Studenten. Ein Aufruf zum Kampf gegen die Springer-Presse. Ein Mann, in die Lektüre der B.Z. vertieft, geht an einer Backsteinmauer entlang. Aus dem Off ertönen Schlagzeilen über amerikanische Angriffe auf Vietnam und hiesige Gräueltaten. Später steckt derselbe Mann vor dem Gebäude der First National City Bank in Berlin B.Z.- und BILD-Zeitungen in Brand. Durch ein Loch in der Zeitung beobachtet ein B.Z.-Leser Berliner, die er für »Randalierer« hält. »Was unterscheidet Westberlin von Vietnam?«, fragt ein Zwischentitel. So wie amerikanische Bomben auf Vietnam, fallen Bündel von Zeitungen auf deutsche Straßen. Am Ende diskutiert eine studentische Kommune über die Zerschlagung des »Apparats«. Sie wickeln Steine in Papier. Im Off hört man Glas zersplittern.
Das »Problem«, das in diesem Film dargestellt wird, sind die Zeitungen des Springer-Konzerns. Farocki nimmt so ein Thema der Studentenbewegung auf und positioniert sich selbst als Guerillakämpfer in dieser Auseinandersetzung.
In einer besonders bezeichnenden Passage des Films sieht man Farocki, der sich von hinten an einen Mann, offenbar einen Agenten der »anderen Seite«, heranschleicht und diesen zu erwürgen scheint. [...] In IHRE ZEITUNGEN nimmt Farocki selbst die Rolle eines Guerilleros ein, der freilich nicht – wie sein Vorbild, der Vietkong-Guerilla – einen militärischen Kampf gegen einen äußeren Feind führt, sondern der in einem symbolischen Krieg gegen das kulturelle und mediale Establishment kämpft. (Der Agent, den Farocki »liquidiert«, liest ebenfalls »ihre« Zeitungen. [...]
IHRE ZEITUNGEN schließt die Idee der Guerillataktik kurz mit Vorstellungen von einer ästhetisch-avantgardistischen Kulturrevolution. Der Film zeigt in einer längeren Szene das »kämpfende Kollektiv« (wie es im Kommentar genannt wird), dessen Mitglieder gemeinsam ein Manifest verfassen. Wie Brecht es für das epische Theater gefordert hat, besteht die Kulisse auch hier nur aus dem Nötigsten, um den Zuschauer nicht durch schmückendes Beiwerk vom Verlauf der Argumentation abzulenken. Mit langen Kamerafahrten durch den kahlen, leeren Raum zerstört Farocki etwaige Illusionen über die Inszeniertheit der Szene und hebt ihre unnatürliche »Gemachtheit« hervor. [...]
IHRE ZEITUNGEN skizziert, wie ein Kino aussehen könnte, das aus der Opposition zum traditionellen Kino entstanden ist: Statt eine linear ablaufende Handlung zu erzählen, reiht der Film – zum Teil fast kabarettartige – Szenen aneinander, die durch Bild-Ton-Montage, Zwischentitel und andere brechtianische Verfremdungseffekte ständig auf die artifizielle Unnatur des Films hinweisen.
Aus: Tilman Baumgärtel: Vom Guerillakino zum Essayfilm: Harun Farocki. Werkmonographie eines Autorenfilmers. Berlin: b_books 1998, S. 63-65.
Farockis frühe Agitationsfilme sehen so aus, als lieferten sie zur Gebrauchsanleitung für das richtige politische Handeln eine andere Anleitung gleich mit: nämlich die, die Anleitung um Gottes willen nicht wörtlich zu verstehen, sondern lieber ein Bier trinken zu gehen und vor allem nicht den Fehler zu machen, sich diese Filme nach fast 30 Jahren wieder anzusehen. [...]
IHRE ZEITUNGEN ist schon – wie die meisten Filme, die Farocki in den kommenden Jahren drehen wird – wie ein Lehrfilm aufgebaut und verfolgt eine didaktische Intention, vermeidet aber noch jene didaktische Rigorosität, die zum Beispiel NICHT LÖSCHBARES FEUER (1968/69) kennzeichnen wird. Es gibt viele spielerische Elemente, ironisch-selbstironische Kurven, auch kleine Exkurse über Filmgenres und darüber, wie man sie für den Agitationsfilm verwerten kann. [...]
Das alte Kinderspiel Papier/Schere/Stein. Ein paar Fensterscheiben gehen zu Bruch. Der revolutionäre Ertrag scheint nicht gerade erheblich. Aus der Kampfansage an »ihre Zeitungen« wird ein Lob des Papiers. Hier jedenfalls hält es Farocki mit Konfuzius: das Weiche, Leichte wird das Harte, Schwere besiegen. Ein Prinzip der Guerilla. Andererseits: die Steine zerschmettern Schaufensterscheiben, Scherbenfest am Kurfürstendamm – die Kampfform der Spontis und ihre Methode, sich selber zu befreien. Das Papier kann dem Stein nur dann die Richtung weisen, wenn es mit einer richtigen Theorie bedruckt ist. Jedoch – die Theoriedebatte in den Jahren 1968 bis 1970 wird überlagert von der Gewaltdebatte: Gewalt nur gegen Sachen – oder auch gegen Menschen? Der lange Marsch ist im Begriff, in eine Kreiselbewegung einzuschwenken; die Revolution beginnt, in sich selbst zu rotieren.
Papier – Schere – Stein: Dieses Bild läßt sich fortspinnen. Eine Triade voller Aporien, in der das eine Ding das andere widerlegt, bis es vom dritten in den Schwanz gebissen wird. Jedes Ding wird von einem anderen dementiert und kann doch überleben. Das kämpfende Kollektiv ist eine ungeheure Produktionskraft, sagt Farocki in IHRE ZEITUNGEN. Aber in der schönsten und witzigsten Szene des Films inszeniert er sich doch lieber selbst als sportlich trainierten Einzelkämpfer, in enganliegender Ledermontur.
Klaus Kreimeier: Papier – Schere – Stein. Farockis frühe Filme.
In: Rolf Aurich, Ulrich Kriest (Hg.): Der Ärger mit den Bildern. Die Filme von Harun Farocki. Konstanz: UVK Medien 1998 (Close up – Schriften aus dem Haus des Dokumentarfilms, Bd. 10), S. 27-45.