Als Abschlussprojekt ihres Filmstudiums inszenieren die beiden tschechischen Regisseure Vít Klusák und Filip Remunda einen gewaltigen Schwindel: Sie kreieren die Werbekampagne für einen neuen großen »Hypermarket« namens »Český sen«, der angeblich in Kürze am Rande Prags eröffnet werden soll. In allen Details dokumentieren sie Vorbereitung und Durchführung: In geliehenen Hugo-Boss-Anzügen schlüpfen sie in die Rolle der Hypermarket-Manager, sie betreiben Marktforschung und interviewen potenzielle Kunden, beauftragen eine renommierte Werbeagentur, verteilen Flyer, nehmen einen Werbeschlager inklusive Kinderchor auf. Bald erscheinen Fernseh- und Radiospots, Anzeigen an Bushaltestellen und in der U-Bahn überall in Prag, und am Tag der vermeintlichen Eröffnung kommen mehrere tausend Menschen auf eine Wiese, auf der sie aber nur eine 100 m lange und 10 m hohe Fassade erwartet.
Die jungen Filmemacher zeigen mit ihrem Reality-Drama nicht nur die Verführbarkeit durch Werbung, sondern auch den rasanten gesellschaftlichen Wandel, den Tschechien seit der Wende von 1989 erlebt hat. Das neue Einkaufsverhalten kratzt sogar an vermeintlich fest verwurzelten Ritualen wie dem allwöchentlichen Ausflug zur chata, dem Wochenendhäuschen. »Ich langweile mich immer, wenn meine Eltern mit mir am Wochenende in den Wald fahren wollen. Viel lieber gehe ich im Hypermarket spazieren«, erklärt ein Teenager im Film.
Gerade junge Familien verbringen ihre freien Tage oft lieber zwischen Regalen und Produktpaletten als in der Natur. Schließlich bieten die Einkaufsparadiese auch Cafés, Multiplex-Kinos, Fitness-Studios und andere Attraktionen. Verglichen mit den anderen ehemaligen kommunistischen Ländern hat Tschechien in Sachen Riesensupermärkte die Nase weit vorn: 37 Prozent der Tschechen geben an, ihren Einkauf überwiegend in Hypermarkets zu erledigen – in Polen zum Beispiel tun das gerade mal 12 Prozent. Das Vertrauen in die großen Ketten scheint unerschütterlich zu sein, das Misstrauen gegenüber Tante-Emma-Läden dagegen ist offenbar groß.
Vermutlich ein Reflex, der seine Wurzeln in kommunistischen Zeiten hat: Anders als in Polen gab es in der Tschechoslowakei keine Nischen für kleine privatwirtschaftliche Lebensmittelläden. Auch durch niedrige Löhne lassen sich die Tschechen nicht von ihrer Lust am Konsum abhalten. Allein seit Jahresbeginn nahmen sie Verbraucherkredite in Höhe von umgerechnet 260 Millionen Euro auf – Tendenz steigend. Vor allem in Prag, wo mit durchschnittlich rund 650 Euro monatlich mehr verdient wird als im Rest der Republik, werden immer neue Einkaufszentren aus dem Boden gestampft: Bis 2009 sollen in der Hauptstadt neun weitere Hypermarkets gebaut werden.
Diese Entwicklung werden die beiden Nachwuchsregisseure mit ihrem Film über den virtuellen Hypermarket nicht aufhalten können, aber immerhin haben sie in Tschechien eine breite und für das Land neue Diskussion ausgelöst. Der ehemalige Staatspräsident Václav Havel kritisierte die Bedenkenlosigkeit, mit der »scheußliche, die Landschaft verschandelnde Gewerbezonen« an den Stadträndern angelegt würden. Er erkennt in diesem Phänomen sogar »Züge von Prostitution«, so Havel: »Und das nennen wir dann Auslandsinvestition.« Nicht nur Politiker und Medien, auch das sonst eher mit Klassikern aufwartende Nationaltheater widmete sich kürzlich dem Thema Kaufrausch. Es setzte das Stück »Hypermarket« des slowakischen Autors Viliam Klimá?ek auf den Spielplan. Immerhin steigere Shopping die Geburtenrate, lässt Klimá?ek eine seiner Figuren darin sagen: »Ein Hypermarket ist ein erregender Ort, der das Gefühl unbegrenzter Möglichkeiten hervorruft. Wenn die Leute nach dem Einkauf nach Hause kommen, entladen sie ihre innere Spannung beim Sex.«
Die Spannung, die sich aufgebaut hatte, bis die beiden Filmemacher Remunda und Klusák den Traum von einem »Hypermarket mit menschlichem Antlitz« platzen ließen, entlud sich bei den meisten Pragern verständlicherweise in kleinen Wutausbrüchen. Auf die Frage, was er von dem Projekt »Tschechischer Traum« halte, sagt ein enttäuschter Kunde: »Das ist mir eine Lehre: Glaube nie einem Filmemacher!«
Antje Buchholz: Lustsuche in großen Ketten
Süddeutsche Zeitung, 2.8.2004
Es ist ein zwiespältiges Vergnügen, ČESKÝ SEN zu sehen. So wie es immer ein zwiespältiges Vergnügen ist, dabei zuzuschauen, wie ein anderer übers Ohr gehauen wird. Immerhin sind die Tschechen vorgewarnt, denn die Werbesprüche, mit denen Klusák und Remunda ihren Supermarkt im Fernsehen, im Radio, auf Plakaten und Handzetteln ankündigen, bestehen fast nur aus Negationen: Kommt nicht nur Eröffnung! Gebt kein Geld aus! Auch der Werbesong, der von einer bekannten Schlagersängerin eingespielt wird, enthält eine deutliche Anspielung auf den Charakter des Projekts. Aber die Leute kommen trotzdem, die Hände voller Tüten, die Taschen voller Geld, Hoffnung und Ungeduld im Blick. Es ist beinahe rührend, in ihre Gesichter zu sehen, während sie von den Meinungsforschern befragt werden, die den Erfolg der Werbekampagne dokumentieren. Man kann viel lesen in diesen Gesichtern, nicht zuletzt die Antwort auf die Frage, warum der Kommunismus über Nacht zusammengebrochen ist, ohne lange Agonie, ohne letztes Gefecht.
Dann das Finale. Klusák und Remunda haben sich am Eingang zu der Wiese postiert, ein Band wird durchschnitten, die Leute beginnen zu rennen. Sie erreichen das Gerüst mit dem Plakat, berühren es, schauen dahinter. Manche lachen über den Spaß, dessen Opfer sie selbst sind, die meisten sind zornig. Armee-Experten hätten sie im Vorfeld vor der Wut der enttäuschten Menge gewarnt, erzählen die Regisseure, vor Brandstiftung, Steinwürfen, Vandalismus, Prügeleien. Nichts davon geschieht. Man sieht, wie sich die Menschen aufregen und dann von selbst wieder beruhigen, und das ist das eigentliche Wunder von ČESKÝ SEN. Wenn dieser Film ein Test ist, dann haben ihn die Tschechen bestanden.
DER TSCHECHISCHE TRAUM ist die mitteleuropäische Antwort auf Morgan Spurlocks amerikanischen Dokumentarfilm SUPER SIZE ME, der von einer anderen, tödlicheren Form des Konsumrauschs erzählt. Und er ist ein Schlag ins Gesicht der meisten neueren tschechischen Spielfilme, die, wie Bohdan Slámas in drei Wochen anlaufendes Plattenbaudrama DIE JAHRESZEIT DES GLÜCKS, von Jungen und Alten erzählen, die allen Widrigkeiten trotzen, von Familien, die zusammenhalten, und Hochzeiten auf dem Land. Bei Klusák und Remunda ist Tschechien eine Zwangsgemeinschaft aus Schnäppchenjägern und Abzockern, die wir selbst nur allzugut kennen. Alles ist käuflich, sagt dieser Film, selbst ein Traum. Noch Wochen nach der geplatzten Eröffnung glaubten bei einer Umfrage achtzehn Prozent der Befragten, der TSCHECHISCHE TRAUM sei tatsächlich ein Supermarkt. So schafft sich der Bluff seine eigene Realität.
Andreas Kilb: Der tschechische Traum: Český sen
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.4.2006