Drei höchst unterschiedliche Menschen auf ihrer Suche nach ihrem Platz in der Gesellschaft treffen auf der Baustelle einer Plattenbausiedlung aufeinander. Die junge und selbstbewusste Bauleiterin Linda Hinrichs geht ganz in ihrer Arbeit auf und liebt ihre dadurch gewonnene Unabhängigkeit. Der Student Daniel jobbt in seinen Ferien auf dem Bau und begeistert Linda mit seinem spontanen Idealismus. Der etwas ältere und geschiedene Brigadier Böwe zieht von einem Bau zum anderen und hat auf dem Weg zum offiziell beschworenen gesamtgesellschaftlichen Fortschritt sein eigenes Glück verloren. Beide Männer versuchen auf unterschiedliche Weise, Linda zu gewinnen, schränken sie aber in ihrem Freiraum ein, wogegen sie sich allerdings zu wehren weiß. Sie zweifelt daran, ob sie mit einem der beiden das Glück und die Geborgenheit finden kann, nach der sie sich sehnt.
Three people from very different walks of life who are searching for their place in society meet at a large construction site. Young, unmarried, self-confident construction manager Linda Hinrichs dedicates herself completely to her work and enjoys living more independently then most women. Daniel, a student works on the construction site to make money during his summer holiday, and impresses Linda with his spontaneous energy and idealism. Brigadier Böwe, an older, divorced man works his way from one construction site to the other and has lost his own personal happiness on the path to developing what was seen as officially suitable social standards. In their own way both men try to win Linda over, not realizing that they are taking her freedom away from her. Linda however knows how to prevent this loss. She doubts though that one or both of them can bring her the security and happiness she desires.
Kosmos, Raumschiff und Schwerelosigkeit; eine Kinderschaukel, Überschlag über die Stange – halbe Schwerelosigkeit; dann der Aufprall, Schwerkraft und Ankunft auf Erden: Daniel schaufelt Sand auf einer sozialistischen Baustelle. Das sind die ersten drei Szenen. Wer so erzählt, hat sein Misstrauen gegen das gewöhnliche Erzählen, oder sagen wir: gegen das gewöhnliche DEFA-Erzählen, schon bekundet. Es ist eine jener DDR-siebziger-Jahre-Baustellen, mit denen Erich Honecker den Sozialismus doch noch zum Sieg führen wollte. Wenn erst jeder seine eigene Wohnung hat! Bis zum Jahre 1990 sollte es geschafft sein. Mag sein, der Sandschaufler (Andreas Gripp) – Student auf Ferienarbeit – hält solche Ziele für kleinbürgerlich. Und ihm die Versetzung eines Sandhaufens anzuvertrauen – ist das nicht Verschwendung von Kraft und utopischer Energie gleichermaßen? Bald haben wir das Jahr 2000 und ihr schließt abends um acht die Haustüren ab!
So beginnt DIE TAUBE AUF DEM DACH von 1973, ein Film, den es eigentlich gar nicht gibt. Zwei Mal schon ging er verloren. Er war das Ergebnis eines Missverständnisses. Anfang der siebziger Jahre hatte Erich Honecker nicht nur über Wohnungen, sondern auch über die Kunst gesprochen: Ohne Tabu soll sie sein! Darum häuften sich nun 1973 die tabulosen DEFA-Filme. […] Und nun auch noch, als letzter, so ein Taubenfilm, der sich nicht wie ein ordentlicher Film, sondern eher wie sein Titelvogel zu bewegen scheint, irgendwie flatternd, schwebend, äugend, hier pickend, da pickend.
Schon die Fortbewegungsform ist wunderbar. Die Stimmen der Menschen sind nur Stimmen unter vielen, auch nicht unbedingt immer handlungsfördernd, etwa wenn der Weihnachtsglaskugelhersteller am Ende zum Philosophen und Diktator wird: Welche Illusion von Freiheit, die immergleichen Kugeln nur noch auf den immergleichen Bäumen verteilen zu dürfen. Vielleicht hätte die seltsame Institution, die in der DDR darüber entschied, ob ein Film dem Volk zumutbar war oder nicht, das alles ertragen, aber den Baubrigadier Hans Böwe (Günter Naumann) ertrug sie nicht: Ein Arbeiter als tragische Figur?
DIE TAUBE AUF DEM DACH ist Iris Gusners Spielfilmdebüt. Solche wie Böwe gab es schon damals kaum noch: einer, der dahin ging, wo er gebraucht wurde, von Großbaustelle zu Großbaustelle. Unterwegs hatte er seine Familie verloren. Und nun steht da ein junges Mädchen vor ihm, das behauptet, seine Bauleiterin zu sein (pragmatisch, zugleich mädchenhaft-verhalten, sehr blond und selbstbewusst: Heidemarie Wenzel). Was soll er tun? Er könnte ihr zeigen, dass einer wie Böwe nicht zu kommandieren ist. Er könnte sich auch in sie verlieben. Er entscheidet sich für die zweite Möglichkeit.
Man hätte ein derbes, handfestes, geradliniges Stück Vorwärts!-Kino daraus machen können, statt dieses Schwebefilms, der alles nur zu leicht berühren und in seine Eigenschwingungen zu versetzen scheint. Und dabei so wunderbar vage bleibt wie das Leben selbst. Schon ein Kuss in die Handfläche, sehen wir, macht manchmal ein endgültiges Abschiedswort unmöglich.
#Die Taube auf dem Dach# forderte das Misstrauen der DDR-Kunstwarte heraus: Der Feind kommt auf Taubenfüßen? Wir bemerken ihn trotzdem! […] Welche Zukunftserwartung über diesem Film liegt: das Jahr 2000 – was für ein Horizont! Man sieht es mit leiser Trauer. DDR-feindlich war die TAUBE natürlich nicht. Nur kleinbürgerfeindlich. Kleinbürger merken so etwas.
Kerstin Decker: Premiere nach vierzig Jahren
Der Tagesspiegel (Berlin), 6.9.2010