Satirisches Gesellschaftspanorama des chaotischen Lebens in einer halbfertigen Plattenbausiedlung. Die Bewohner kämpfen mit der unzulänglichen Infrastruktur, den kleinen Tücken des Alltags und ihren großen Sorgen und Sehnsüchten. Ein alter Mann irrt auf der Suche nach der Wohnung seiner Tochter über die Anlage. Der sechsjährige Herumstreuner Pepíček stellt Unsinn an. Ein Bauabnahme-Komitee ist entsetzt über den Zustand der Wohnungen. Marie will ihre schwangere Tochter Soňa zur Abtreibung bewegen und lässt sich von einem eitlen Schauspieler verführen. Soňas unglücklich verheiratete Schulfreundin Marta streitet mit ihrem Mann. Eine Frau bekommt ihre Wehen und kann erst in letzter Minute ins Krankenhaus, weil die wenigen Telefonzellen ständig besetzt sind. Ein Medizinstudent steigt in der Wohnung einer alten Dame ein, weil er sie für tot hält, und zwei Maler lassen sich ihre Arbeit mit Sex bezahlen. Ein typischer Tag auf der größten Baustelle Prags.
Blutrot geht die Sonne im Zeitraffer über einer häßlichen Betonsiedlung am Rande einer Großstadt auf. In kurzen Spielszenen und locker zusammengefügten Handlungsfäden erzählt der Film vom Leben in solch einer Wohnmaschine: Die Geschichte der Wände, die sich zu immer neuen Wohnzellen fügen, die Menschen voneinander trennen, ihre Konflikte und Probleme voneinander abgrenzen. Ein Tag wird beschrieben, an dem ein alter Mann sich diese Siedlung anzueignen versucht, ein Mädchen ihrem Verlobten und der Mutter beibringen muß, daß es ein Kind bekommt, ein Junge verloren geht und am Ende doch wiedergefunden wird. Vera Chytilová entfaltet dieses Gesellschaftsporträt am Modell des Mikrokosmos einer Betonsiedlung als bitterböse Karikatur. Da werden schwarz arbeitende Handwerker mit erotischer Münze bestochen, jeder tätigt noch schnell seine Schwarzmarktgeschäfte und überhaupt sucht im Chaos dieser unfertigen Halbwelt jeder nach seinem Vorteil.
Der Film reißt solche Szenen oft nur an, collagiert sie zu einem expressionistischen »Sittengemälde« des »real existierenden Sozialismus«. Er legt menschliche Schwächen, Lüge, Selbstbetrug und Egoismus, Geldgier und Fleischeslust, nicht liebevoll-ironisch bloß; sie werden vielmehr mit allen Mitteln der Übertreibung und Stilisierung gegeißelt. Daher: Geschichte der Wände. Viele Zuschauer werden sicher mit Vera Chytilovás avantgardistischen Stilzutaten – schrillem Free-Jazz, gehetztem Schnitt und aufgeregter Kamerabewegung – ihre Schwierigkeiten haben. Da gehen dem grotesken Bilderbogen vor allem darstellerische Akzente verloren oder werden zumindest verschenkt. Unter dem Strich fügen sich die Elemente dieser Geschichte dennoch zu einem sehenswerten filmischen Essay über die alptraumhafte Szenerie einer Trabantenstadt als Focus des Verfalls menschlicher Beziehungen überhaupt.
Joseph Schnelle: Geschichte der Wände
Film-Dienst, Nr. 26, 28.12.1983
In einem Allegro furioso der von der Filmkamera aufgenommenen und am Montagetisch verknüpften Bilder wird in der Titelsequenz der Schauplatz umrissen, der Zuschauer an die Protagonisten des von der tschechischen Regisseurin Vera Chytilová 1979 gedrehten Films herangeführt. Eine moderne Überbauung mit schon bewohnten und noch im Bau befindlichen Wohnblöcken wird für einen Tag Gegenstand einer gleichsam dokumentarischen Beobachtung. Die Menschen, die dort wohnen (von Schauspielern verkörpert oder sich selbst spielend), die Männer und Frauen, die am Morgen zur Arbeit wegfahren (können), die Frauen, die mit den Kindern zurückbleiben (müssen) in dieser Umgebung des hektisch vorangetriebenen Baubooms: Sie sind Teil eines Spektrums, das verschiedene Generationen und soziale Schichten umfasst.
So wie die Häuser dieser auf dem Reissbrett entstandenen »künstlichen« Stadt aus vorgefertigten Betonelementen (Panels) zusammengesetzt werden, so montiert auch Chytilova ihren Film aus kleinen und kleinsten Erzähleinheiten: eine filmische Collage von Episoden und Anekdoten über die Frustrationen mit bürokratischen Behörden und in den zwischenmenschlichen Beziehungen, über Isolation, aber auch über Lebensfreude und Solidarität. Und hieraus entwickelt sich das Bild von Menschen, die – da sie nun einmal dieselben Unzulänglichkeiten (schlechte Bauqualität, Versorgungsschwierigkeiten, nie enden wollende Bautätigkeit mit Bergen von Aushub und Bauschutt) ertragen müssen – mit der Zeit doch zu einer organischen Gemeinschaft finden.
Die in Cinema-Verité-Manier leichthändig und beweglich geführte Kamera von Jaromir Sofr, die aber auch gern mit poetischen Überhöhungen arbeitet, verweist zurück auf Chytilovás dokumentarische Anfänge, erinnert aber auch an ihren im Westen wohl bekanntesten Film, DIE KLEINEN MARGERITEN (1966) [Sedmikrásky], eine surrealistisch-poetische Komödie von hinreissender visueller Gestaltungskraft.
kpr.: Beschwerliches Leben in Elementbauweise
Neue Zürcher Zeitung, 6.12.1984