Ein einstürzendes Haus, ein altes Buch und ein dubioser Antiquitätenhändler namens Gwissen konfrontieren Jadup, den Bürgermeister des altmärkischen Städtchens Wickenhausen, mit fast vergessenen Ereignissen aus der Vergangenheit. Er erinnert sich an das Umsiedlermädchen Boel, dem er einst Lesen und Schreiben beibrachte und das plötzlich verschwand. Es gab Gerüchte über eine Vergewaltigung, auch Jadup wurde verdächtigt. Er leidet unter der Vorstellung, schuldig geworden zu sein, und Boel, die in ihn verliebt war, ohne dass er es bemerkte, in einer schwierigen Situation enttäuscht zu haben. In der Beziehung seines Sohnes Max zur Außenseiterin Edith erkennt Jadup Parallelen zur eigenen Vergangenheit. In einer Jugendweihe-Rede fordert er die Jugendlichen auf, nie mit dem Fragen aufzuhören, aber gleichzeitig nicht nach einer endgültigen Antwort zu suchen, die es so nicht gebe.
A collapsing building, an old book, and a dubious antique dealer named Gwissen confront Jadup, the mayor of Wickenhausen, with things he may have rather forgotten. Shortly after the end of WW2, as a young man, he had taught Boel, a refugee girl to read and write before she suddenly disappeared. There were rumours of rape and Japup was one of the suspected. With a guilty conscience and no knowledge of how much Boel had loved him, Jadup begins to see shocking similarities with the current situation. His son Max’s relationship with Edith, who is also an outsider, helps create a generational parallel and in an official speech Jadup encourages the youth to question all things critically without searching for an immediate answer.
Sieben Jahre »gereift« kommt der 1981 nach dem Roman »Jadup« (Paul Kanut Schäfer) produzierte DEFA-Streifen JADUP UND BOEL des Regisseurs Rainer Simon ins Studiokino. Wie sehen wir nun die darin aufgeworfenen Probleme der moralischen Verantwortung des einzelnen in der Gesellschaft, den Konflikt zwischen persönlichem Gewissen und einer sozialen Erwartung zu vorrangig bewußt richtigem Handeln? Schäfer charakterisiert den Weg seines Helden Jadup, der im Film von Kurt Böwe dargestellt wird, als »unaufhaltsamen Abstieg ins Leben, der, wer könnte es leugnen, Jadups eigentlicher Aufstieg ist«. Jadups »Abstieg« heißt Realitätsgewinn, Vergewisserung der tatsächlichen Gegebenheiten, mit denen es dieser Bürgermeister in seinem Städtchen zu tun hat, sowie gedanklich-gefühlsmäßige Aufarbeitung seines Erlebens mit dem Flüchtlingsmädchen Boel (Katrin Knappe). Sein »Aufstieg« findet zumindest verbal Ausdruck in einer ungewöhnlichen Jugendweiherede, in der Jadup sich zu dauerhafter, revolutionärer Anerkennung von Widersprüchen bekennt, die niemals endgültiger Lösung zuführbar sind, weil dies ganz einfach den Tod bedeutete, oder – möchte man hinzufügen – die kleinen Tode eigener Handlungsbeschränkung.
Was im Roman über sinnbildhafte Sprache zu vermitteln ist, bedarf im Film eines direkten, manchmal wohl zu direkten Bildes. Möglicherweise hatte der Film JADUP UND BOEL mit solchen Bildern wie dem mitten in der Grundsteinlegung zum Kaufhaus zusammenkrachenden Fachwerkbau, der zerstreuten Unfreundlichkeit der Kleinstadtbewohner, der engstirnigen Kollektivbesessenheit unter Schülern, die den Erwachsenen aufs Haar gleichen usw. seine nun vorübergegangenen Zulassungsschwierigkeiten. Wir blicken heute gelassener auf die Szene. Sollte sich unser Wirklichkeitssinn geschärft haben, erkennen wir nicht manchmal lächelnd uns selbst in dieser allegorisch grüblerischen Vorausschau von vor sieben Jahren?
Was den Bürgermeister Jadup bedrückt in seiner schon recht muffig gewordenen und zudem rechthaberisch aufmuckenden Kleinstadt, ist kompliziert und einfach zugleich. Ihn plagt das Gewissen, weil er – einst befreundet mit dem Mädchen Boel – eine ihr vom großen Unbekannten (der sich zum seltsamen Gerücht auswuchs) angetane Schmach ebenso eifrig verdrängte wie alle um ihn. Und er will unter seinen Bürgern Tatbereitschaft erwecken, ohne die nötige Frischluft dafür hereinlassen zu können. Ja, bei seinem Sohn zeichnet sich im Schulalltag ähnliche Verklemmung und Unehrlichkeit ab, wie sie Jadup nachwirkend beschieden war.
Die episodische Struktur des Films JADUP UND BOEL bietet viele Details einer Wirklichkeit, die zunächst gedanklicher, dann tatsächlicher Belebung bedarf. Er bietet weniger wirkliche Auseinandersetzung, bleibt kopflastig und leider auch allzu schwermütig, wo die Komödie zum Greifen nahe liegt.
Nicht in der Handlung, sondern in den Figuren erkennen wir die verschütteten, aber noch jederzeit zu bergenden und einzusetzenden geistigen und praktischen Möglichkeiten: Kurt Böwe spielt seinen Jadup gleichsam mit wachen, hellen Augen, nie resignativ, eher ärgerlich über das Gemunkle und Geducke um ihn herum, auch aufbrausend, dann wieder voreilig diszipliniert, gleichsam gesteuert aus falsch eingegebener Überzeugungslast. Franciszek Pieczka offenbart im sympathisch spinnrigen Chronikschreiber Unger den zwar erfolglosen, aber immer eingreifwilligen, gütigen Optimisten und Weltverbesserer. Käthe Reichel ist eine aufmerksam verschlossene Frau Martin, die der Müllhalde »vorsteht«; Michael Gwisdek zeigt im Herrn Gwissen, einem »A&V«-Sammler auch menschlich kenntnisreichen Zuschnitts, wundersame Poesie; Christian Grashof führt uns den Kaufhausleiter in seiner engagierten Hilflosigkeit vor.
Ein sehr achtbarer Versuch Rainer Simons mit Gegenwartsdramatik, der etwas Patina ansetzen mußte, so daß er bereits zu den kunstvollen Rückblicken auf uns zählen darf.
Hans Braunseis: Was bedrückt den Bürgermeister?
Der Morgen (Berlin/DDR), 21.5.1988