In der deutschen Fassung von 1952 ein Anti-Nazi-Film ohne Nazis: Ende 1941 ist Casablanca in Französisch-Marokko ein Tummelplatz von Flüchtlingen aus ganz Europa. Alle hoffen darauf, an einen falschen Pass oder ein Ausreisevisum zu gelangen, um über Lissabon weiter nach Amerika fliehen zu können. Mittelpunkt des Treibens ist Rick’s Café Américain, Bar und Spielcasino des Amerikaners Rick Blaine, früher Waffenschmuggler und Freiheitskämpfer im Spanischen Bürgerkrieg, jetzt nur noch ein desillusionierter Zyniker, der für niemanden mehr den Kopf hinhalten will. Da erscheint in der Bar ausgerechnet seine ehemalige Geliebte Ilsa Lund, die ihn in Paris einst plötzlich verlassen hatte, um zu ihrem Mann zurückzukehren, einem Wissenschaftler, der die Delta-Strahlen entdeckt hat. Als er verhindern wollte, dass sie als Waffe eingesetzt werden, geriet er als Saboteur ins Gefängnis. Nun ist er mit Ilsa auf der Flucht und benötigt zwei Diplomatenpässe, um seine Forschungen in Amerika fortsetzen zu können. Ihre letzte Hoffnung ist ausgerechnet Rick.
The 1952 German release is essentially an anti-Nazi film without any Nazis. Towards the end of 1941 Casablanca in French Morocco is a hotbed of European refugees, hoping to get their hands on a letter of transit or exit visa and fly to Lisbon, and then America. Rick’s Café Américain is a bar and casino owned by exiled American Rick Blaine, a former weapons smuggler and freedom fighter in the Spanish civil war who has become cynically disillusioned and won’t stick his neck out for anyone. Ilsa Lund, an ex-lover that left Rick when they were in Paris unexpectedly walks into the bar looking for a way to return to her husband, a Swedish scientist who discovered the “Delta-Rays”. Her husband was imprisoned as a saboteur after trying to prevent his discovery from being used as a weapon. Ilsa, on the run, trying desperately to somehow obtain two diplomatic passports to allow her husband to continue his research in America, knows that Rick may be her only hope.
Ein filmisches Kauderwelsch, zum Reißer zu wenig, zur Reportage zu unwahr und respektlos vor der Wirklichkeit und den Schicksalen des Krieges. Dutzendware der Warner Bros. trotz der in Haupt- und Nebenrollen mitwirkenden Stars. Das geht zu einem Auge herein und zum andern hinaus. Casablanca, Sprungbrett der vor den Kriegswirren aus Europa nach Amerika Fliehenden, ein erschütterndes Thema. Es wird links von der Leinwand liegengelassen. Der Scheinwerfer projiziert dafür eine Kriminalgeschichte um Beschaffung von geraubten und falschen Pässen, im Mittelpunkt Ingrid Bergman, in Gefühlsverwirrung zwischen ihrem angetrauten geheimnisvollen Strahlenforscher und einem smarten Bar- und Spielhöllenbesitzer. Aber weder Ingrid Bergmans lächelnde Traurigkeit aus der Kosmetikflasche noch die Überraschungsgags à la Gangsterfilm verhelfen der verkorksten Geschichte zu Milieu. Dabei treten in Nebenrollen Darsteller wie Peter Lorre auf, die leider nur kurz die Szene beherrschen, um aus den Handlungsfetzen eine Filmhandlung werden zu lassen.
P. H.: Casablanca
Neue Zeitung (Frankfurt), 17.11.1952
Was also bleibt unter diesen Umständen vom Mythos CASABLANCA? (Das Original kenne ich leider nicht.) Ich sah die marokkanisch-französische Stadt des Kriegsjahres 1942 mit Hollywood-Kulissen zurechtgezimmert und bevölkert als ein Babylon von Glücks- und noch mehr Unglücksrittern, von Menschenhändlern, unbestimmt Anrüchigen, Gestrandeten, Gestrauchelten, Gepeinigten aller Länder, inmitten eines Gewühls von heiter geschäftigen Landeskindern, von dauernd auf Menschenjagd befindlichen Polizisten, von Spielern, Taschendieben, eleganten Nachtclubbesuchern und Katzen. Ich sah in dieser Stadt Humphrey Bogart als amerikanischen Barbesitzer namens Rick, hart gesotten, durch alle Sümpfe trocken watender Geschäftsmann, früher einmal immerhin aus Idealismus (vermutlich) auf republikanischer Seite kämpfend mitmachender Spanienkämpfer, nunmehr einsamer Zyniker und Whiskytrinker. Und natürlich: tief im Verborgenen Romantiker. Ich sah ferner Ingrid Bergman in wunderschöner Weiberpracht und an ihrer Seite Paul Henreid, einen Physiker ohne Nationalität spielend, der eine als Mordwaffe verwendbare Erfindung zerstört hat, in einem uns unbekannt bleibenden Land als Saboteur verurteilt, aus dem Zuchthaus geflohen ist und mit seiner Frau Ilsa hier auf falsche Pässe, auf Ausreisevisa, Flüge nach Lissabon, Einreise in Amerika wartet. Alle warten auf schiefen Wegen auf das gleiche Glück – nur versteht man nicht, warum es sie so angstvoll drängt, diese kriegsferne Stadt zu verlassen, warum sie dafür sogar morden, warum überhaupt dieser in seiner Schludrigkeit doch eigentlich angenehme Ort sich so infernalisch gebärdet.
Das Wort »Nazi« fällt nie, daß es sich bei den Flüchtlingen um Deutsche, teils auch um deutsche Juden handeln könnte, ist allenfalls an einigen Namen zu erahnen, wir befinden uns in keiner geschichtlichen Zeit, das Weltgeschehen ist ein Ungeheuer ohne Namen – statt der Gestapo-Agenten fürchten alle Menschen nur Gespenster.
Aber nach einer Weile überdachte ich nichts mehr, überließ mich nur noch wohlig dem himmlischen Liebesdrama: Rick inszeniert eisig-intelligent eine Intrige, um den Polizeichef in seine Hand, den Nebenbuhler aus dem Gefängnis, die Geliebte wieder an dessen Seite und beide zusammen ins rettende Flugzeug zu bringen. Mag auch am Sachlichen fast nichts einleuchten, so leuchtet doch der Traum vom Kino: Bogart bleibt verzichtend zurück, Großes im Blick und der ihm gebotene Hauch von Sarkasmus nicht minder. Ein zäher Hund, traurig, treu, träumend. Ich sah einen ziemlich unsinnigen Film. Aber eben gleichwohl ein Mythos; ein Fetzen nur, doch rührend.
Karena Niehoff: Verhackstückt – Der Film »Casablanca« in zweifelhafter Wiederaufführung
Der Tagesspiegel, 26.4.1974