Nach Jahren in der Großstadt kehrt Tonka an den Ort ihrer Kindheit zurück, in das Dorf und das Haus, in dem ihre verwitwete Mutter immer noch lebt. Dort trifft sie Jenda wieder, den sie aus Kindertagen kennt. Er verliebt sich in die junge, elegante Frau. Doch als er von Heirat spricht, flieht Tonka zurück nach Prag. Was sie verheimlicht hat: Tonka arbeitet hier als Prostituierte, ist der Liebling der zahlenden Kundschaft. Doch sie hat auch Herz: Als ein zum Tode verurteilter Gewaltverbrecher den Wunsch hat, seine letzte Nacht in Gesellschaft einer Frau zu verbringen, ist sich Tonka dafür nicht zu fein; in der Todeszelle spendet sie ihm Trost. Anschließend aber wird sie als »Witwe eines Gehenkten« sozial geächtet und sinkt zur Straßendirne herab. Aus ihrer Not wird sie von Jenda befreit, der sie gesucht hat. Er bringt sie zurück aufs Land. Doch am Tag vor der geplanten Hochzeit holt Tonka ihre Vergangenheit als »Galgen-Toni« auch hier wieder ein.
Nun ist also auch das Nationalepos der Prager Gassen und Nächte den Weg aller Literatur gegangen. Die »Galgentoni«, das beste, was Egon Erwin Kisch seiner Liebe zu den untersten Hunderttausend dieser Stadt abgerungen hat, erlebte ihre feierliche Auferstehung als erster tschechoslowakischer Tonfilm vor einem Auditorium, dessen vorschriftsmäßig festliches Gewand allerdings nicht ganz mit dem Milieu harmonisierte, dem Fräulein Tonka Sibenica ihre beispiellose Popularität zu danken hat.
Es war ein voller, und wie man unbestochen von jeder lokalpatriotischen Voreingenommenheit feststellen muß, durchaus verdienter künstlerischer Erfolg. Karl Anton hat sein Meisterstück geliefert, und man kann nichts Höheres zu seinem Lobe sagen, als daß man den ganzen Abend über spürte, daß ihm wichtiger als jeder Effekt war, dem Urbild ebenbürtig zu bleiben. Vorzüglich, wie er die Schauspieler führt: die kleine Ita Rina wächst unter seiner Regie aus einem hübschen Nichts in erschütterndste Tragik der geopferten Kreatur, und Typen wie die »Madame« der Nedošinská, der »Prokupek« Rovenskýs, der Hausierer Kühnes und der »Scharfrichter« Pištěks sind mit wenigen sparsamen Strichen prachtvoll hingestellt. Ein Kabinettstück die Rauschszene Svitáks, Gipfelpunkte die Nacht vor der Hinrichtung, die Szene im Karussell, die Todesszene Tonkas unter den einzigen, die menschlich zu ihr sind: den Apachen des Eastchapel von Prag.
Seit gestern haben wir […] einen tschechoslowakischen Tonfilm. Er hat noch nicht alles von Amerika und Rußland gelernt. Wenn in der Gemsengasse vom Tode gesprochen wird, sollte nicht die »Egmont-Ouvertüre« gespielt werden, und bei Prokupeks letztem Gange nicht die Musik zu Siegfrieds Tod aus der »Götterdämmerung«. Aber das sind Kinderkrankheiten.
Wichtiger ist, daß aus dem Libretto, das Willy Haas sehr geschickt den Notwendigkeiten des Films angepaßt hat, trotz aller mitunter schmerzlichen Zutaten und Weglassungen die alte, ehrliche, tapfere Tonka Egon Erwin Kisch’ vor uns aufblühte und verwelkte – ein Geschöpf der Heimat, die man lieben muß, um sie zu verstehen, und verstehen, um sie zu lieben – auch in den Ausgestoßensten der Ausgestoßenen.
r.r.: Karl Anton stellt vor: »Tonka Šibenice« als Tonfilm im »Alfa
Prager Tageblatt, 28.2.1930
Am Donnerstagabend fand die festliche Premiere des ersten tschechischen Ton- und Sprechfilms TONKA ŠIBENICE statt. […] Die Begeisterung, die er auslöste, war eine Anerkennung sowohl für den Film wie auch für seinen Schöpfer.
Die bekannte Handlung ist hier leicht abgewandelt worden, infolgedessen weicht die Darstellung Tonkas von derjenigen ab, die wir aus der Wirklichkeit und dem Bühnenwerk von Kisch kennen. Für den Film erweist sich dies als klarer Vorteil, insbesondere in Hinblick auf das Ausland. Antons Regiearbeit verdient volle Anerkennung. Der Einsatz einiger folkloristischer Szenen aus Mähren ist ungewohnt glücklich, und auch mit den wunderschönen Ansichten von Prag und seinen beleuchteten Bauten wird der Film jenseits unserer Grenzen eine hervorragende Werbearbeit für die Republik leisten. Die Kameraarbeit ist sehr gelungen, auch dort, wo Kameraleute in so manche Schwierigkeit geraten können.
Die Besetzung der Rollen insgesamt sehr gut. Ita Rina wirkt als Tonka Šibenice in den Anfangsszenen etwas unsicher, sehr schnell befreit sie sich jedoch von der anfänglichen Beklommenheit, fühlt sich in die Rolle hinein und liefert eine wunderschöne Leistung mit Höhepunkten in der zweiten Hälfte, wenn sie die disparate und dem Alkohol verfallende Tonka verkörpert. Die Szenen im Gefängnis, im Café Kandelábr und in der Kneipe, wenn sie von der Nacht erzählt, die sie mit dem verurteilen Mörder verbracht hat, sind einmalig.
Ita Rina hat damit erneut bewiesen, dass sie über ein Talent verfügt, das nur der Führung durch die feste Hand eines Regisseurs bedarf. Ihre Darstellung der Tonka weicht, wie gesagt, von der Darstellung durch Xena Longenová ab; in jeder Umgebung ist sie zärtlich, auch außerhalb des Freudenhauses, ein einfaches, gutmütiges Mädel vom mährischen Dorf, das seine Mutter und seinen Freund liebt, ein Mädchen, das eher durch das Zusammenspiel ungünstiger Umstände als durch eigenes Verschulden auf die schiefe Bahn geraten ist. Nicht mal der spätere Niedergang, verursacht durch Verachtung und Alkohol, kann ihre Gefühle gänzlich auslöschen. […]
Košťáls musikalische Begleitung, die aus zahlreichen Volksliedern besteht, ist ausgezeichnet; die Tonwiedergabe insgesamt sehr klar, rein, überraschend. Dasselbe gilt für das gesprochene Wort, verschiedene Geräusche, die Lieder und Musik.
TONKA ŠIBENICE ist ein wunderschöner, gelungener tschechischer Film, ein weiterer Beweis für unsere Fähigkeiten im Filmgeschäft und in Hinblick auf die erstklassige Tonqualität eine Sensation ersten Ranges. Mit ihm stehen wir ehrenvoll Seite an Seite mit dem Ausland. Dafür danken wir Karel Anton, seiner Hingabe und seinem Fleiß.
J. V. R.: »Tonka Šibenice« – der erste tschechische Tonfilm
České slovo, 1.3.1930