Im Haus ihrer Kindheit, auf der kleinen Nordsee-Hallig Langeneß, sucht Karin eine Auszeit vom hektischen Leben in der Großstadt. Im kleinen Laden begegnet sie Deniz, einem Flüchtling aus der Türkei, der mit drei weiteren Asylbewerbern in einem Bauwagen lebt. Die restlichen Inselbewohner halten nicht viel von den »Fremden« und begegnen ihnen mit Vorurteilen und Missgunst. Nachdem einer der Flüchtlinge in der Flut ertrinkt, wollen die Inselbewohner auch die anderen loswerden. Als plötzlich der Bauwagen in Flammen aufgeht und die anderen Flüchtlinge schließlich von der Insel gebracht werden, versteckt Karin Deniz bei sich zu Hause. Es entwickelt sich eine stille Beziehung zwischen den beiden, die vielmehr durch Gesten als durch Worte bestimmt ist, denn sie verstehen die Sprache des anderen nicht. Eines Tages bricht eine Sturmflut über die Hallig, die für Karin und Deniz alles verändert.
Nachrichtenbilder von Menschen, die sich verzweifelt in fremder Erde festkrallen, um nicht in ihr Heimatland zurückgebracht zu werden … wachsende Ausländerhetze … Verschärfung des Asylrechts … Die Tragödie derer, die von wirtschaftlicher Not, alltäglichen Schikanen und politischen Repressionen aus ihrer Heimat vertrieben und in der Fremde als unwillkommen herumgestoßen werden, wird von Tag zu Tag größer. In dieses Klima der allgemeinen Verunsicherung, latenter und offener Aggression hinein kommt jetzt der Film eines Regisseurs, der das Fremdsein aus eigener, oft schmerzhafter Erfahrung nur zu gut kennt: Tevfik Başers LEBEWOHL, FREMDE […] erzählt von der kurzen Liebesbeziehung zwischen einer Deutschen und einem türkischen Asylanten, von ihrem gemeinsamen Versuch, die Sprachlosigkeit zu überwinden, sich jenseits der Worte, mit denen sie sich nicht verständlich machen können, zu verstehen. […]
»Ob man diese Grenze wahrnimmt oder nicht«, so Tevfik Başer, »man ist als Ausländer von einer Mauer umgeben, höher noch als die, die in Berlin stand. Auch auf dieser Insel gibt es eine Grenze: das Meer. Bei Ebbe rückt es weiter weg, bei Flut kommt es ganz nah heran. Am Schluss des Films, wenn die Sturmflut kommt, verlieren die Menschen den Boden unter den Füßen. Es gibt keinen Lebensraum mehr für sie, das Meer fegt sie weg. Deshalb war die Hallig so ideal für mich als Metapher.« Warum er immer wieder auf dieses Thema der Einsamkeit und Isolation zurückkommt? »Ich weiß es nicht. Vielleicht liegt es daran, dass meine Sprache nicht so entwickelt ist wie mein visuelles Denken. Auch der Verlust von Sprache ist ja solch eine Grenze. Es ist wie ein Exil im Exil. Deniz, der von Müşfik Kenter gespielte türkische Schriftsteller in meinem Film, darf in seinem eigenen Land nicht sprechen und im Ausland kann er es nicht, weil ihm die Worte fehlen. Er muss die Arbeit annehmen, die er bekommt. […] Wenn 1992/93 in Europa die Grenzen wegfallen, müssen wir ohnehin alle umdenken. Wenn jemand geboren wird, sagt man: ›Er kommt zur Welt‹. Man sagt nicht: ›Er kommt zur Türkei, zur Bundesrepublik oder er erblickt das Licht Albaniens oder Italiens.‹ Wir alle sind doch Bürger dieser Erde. Oder?«
Mathes Rehder: Tevfik Başer: sprachlos, aber den Kopf voller Bilder
Hamburger Abendblatt, 15.8.1991
Die Nordsee dröhnt, der Regen rauscht, die Reetdächer tropfen. Ein Türke, ein Afrikaner, ein Pakistani in Deutschland, – sie sind ohnehin schon weit weg von ihrer Heimat. Aber weiter weg als auf einer waschlappengroßen Halligen-Insel können sie gar nicht sein. Das ist die absolute Fremde, und weil sie so absolut ist, […] darum ist dieses Bild der Verlorenheit auch eine Metapher des Fremdseins. Aus beidem – der bis auf die Knochen erkältenden Realität dieser Insel und dem, was sie bedeuten kann – hat der Türke Tevfik Başer seinen dritten Spielfilm LEBEWOHL, FREMDE gemacht, der dieses Jahr als deutscher Beitrag beim Wettbewerb in Cannes lief. […]
Hier der Bauwagen, der seine Bewohner eher hinaustreibt, als dass er sie beherbergt. Dort ein altes Bauernhaus von jedem archaischen Charme, den unsere wohlbestallten Stadtflüchtlinge aus dem gebildeten Mittelstand so lieben. Karin hat sich aus Hamburg in dieses Refugium zurückgezogen, es muss nicht erklärt werden. Warum: Vermutlich, weil sie hier so allein sein will wie sie sich anderswo fühlt. […] Die enge Landschaft vor dem weiten Horizont drückt die Menschen zusammen – im guten und im schlimmen Sinn. Am Dorfstammtisch wölben sich die Rücken zur Bastion, hinter der missmutige Seitenblicke hervorschießen, wenn einer der Fremden das Gasthaus betritt. Karin, die hier geboren wurde und darum mit allen auf gutem Grußfuß steht, freundet sich mit Deniz an. Sie unterhalten sich miteinander, Deniz, ein Poet, deklamiert ihr seine Gedichte, doch sie verstehen sich nicht, oder besser: Sie verstehen alles, außer den Worten. […] Diese Sprachbarriere hebt der Film auch für den Zuschauer nicht auf – es gibt keine Untertitel. Und genau das ist das Zentralmotiv dieser Geschichte. Bei Verständigungsbereitschaft, menschlicher Mitleidenschaft, sollte es diese Barriere nicht geben. Dabei funktioniert die Annäherung zwischen den beiden wohlgemerkt nicht über jene andere wortlose Sprache, das Sexperanto. Başer entwirft vielmehr zwei Menschen, die sich mit Neugier und Geduld betrachten, sich durch Gesten, Übermut und Stimmungen vermitteln […].
Eberhard Falcke: Die Enge unterm weiten Himmel
Süddeutsche Zeitung, 22.8.1991