Der im Zuge des Militärputschs in Chile geflüchtete 16-jährige Lucho zieht mit seiner Familie ins Exil nach West-Berlin. Wie andere Jugendliche in seinem Alter interessiert er sich für Musik und die Liebe. In einem Plattenladen trifft er auf die Verkäuferin Sophie, traut sich jedoch nicht, sie anzusprechen. Als sie sich das nächste Mal sehen, erzählt er ihr von seiner Flucht aus Chile und seinem politischen Engagement, das sie jedoch wenig beeindruckt.
Während eines Essens erhält seine Familie einen Brief aus der Heimat: Der Onkel wurde vom chilenischen Militär verschleppt und sei verschwunden. Lucho und seine Familie organisieren daraufhin politische Aktionen, um auf die Missstände in Chile aufmerksam zu machen. Zu allem Übel verliert der Vater aufgrund seiner politischen Einstellung auch noch seinen Job am Flughafen, und Lucho muss auf sich auf eine Prügelei mit einem anderen Jungen einlassen, um die Familie zu beschützen.
Frage: Obwohl die Deutschen in diesem Film eigentlich mehr marginale Figuren sind, habe ich den Eindruck: es ist ein Film, der sehr intensiv von Deutschland handelt – womit wir wieder bei der Eingangsfrage wären: Dein Film ist eigentlich ein Film über Deutschland, wie es sich für jemand darstellt, der sich noch nicht, wie wir, daran gewöhnt hat; und da wir jetzt durch seine [= Luchos] Augen auf dieses Land sehen, sehen wir es auch genauer – also eine Art Verfremdung?
Christian Ziewer: Als ich diese Geschichte von Antonio Skármeta gelesen hatte, da fand ich gerade das außerordentlich spannend und interessant: daß da Leute in unser Land kommen, in dem gegenwärtig die große Resignation herrscht, Passivität, Gefühle von Ohnmacht gegenüber politischen Vorgängen – daß in dieses Land Menschen kommen, die die Hoffnung eben nicht aufgegeben haben, und zwar deshalb, weil für sie gesellschaftliche Aktivität und Fortschritt eine Erfahrung gewesen sind. Die haben es als Teil ihres Lebens betrachtet, politisch, gesellschaftlich tätig zu sein, verändernd zu wirken. Und die kommen jetzt in ein Land, wo sie plötzlich – zumindest im ersten Augenblick – ganz passive und im Hinblick auf soziale Konflikte unsensible Menschen treffen. Der Zusammenprall von ihrer gemachten Erfahrung und jetzt unserer deutschen Wirklichkeit, das kam mir als wichtige, außerordentlich spannende Angelegenheit vor.
Bleiben wir doch noch kurz bei den deutschen Personen im Film: ein ausgeprägtes politisches Bewußtsein hat im Grunde niemand von denen. Man sieht Ansätze.
Das Wort »ausgeprägt« ist wichtig. Ich bin bei den Figuren, die ich mit Skármeta zusammen für diesen Film entwickelt habe, von Ansätzen ausgegangen. Wir sind ausgegangen von Menschen, die einerseits ein sehr wenig entwickeltes Bewusstsein haben, die die Politik sogar abblocken …
… wie der Siegfried, der deutsche Kollege des Vaters, der sagt: »Nenn’ mich Siegfried, oder sag’ Kollege, aber nenn’ mich nicht Genosse!« …
Ziewer: … und der vor allen Dingen sagt: »Deine Politik, die mach’ woanders!« Aber dann gibt es natürlich auch noch andere Deutsche, die versuchen, eine politische Arbeit zu machen, die die Chile-Solidarität als politische Arbeit in Deutschland verstehen, die aber da an Grenzen stoßen, über die sie nicht hinwegkommen, wo es ihnen nicht möglich ist, etwas erfolgreich durchsetzen zu können. […] Das war eigentlich so die Prämisse, unter der ich an diesen Film gegangen bin: kein weitgestecktes Ziel in den Film hineinzutragen, was im Moment eine wenig reale Basis hätte, sondern auszugehen von den Widersprüchen und Schwierigkeiten, die im Moment für viele Menschen bestehen.
Norbert Jochum: Interview mit Christian Ziewer
Der Tagesspiegel, 21.5.1978
AUS DER FERNE SEHE ICH DIESES LAND ist ein Film, bei dem vor allem die Ruhe und Gelassenheit in allen Szenen auffällt. Der Film lässt sich Zeit – sich und seinen Zuschauern. Ob Lucho zum ersten Mal den Plattenladen betritt, in dem er die Verkäuferin Sophie kennenlernt; ob Luchos Familie um den gemeinsamen Tisch versammelt ist; ob der Vater vor einer Kommission über seine politische Vergangenheit und Gesinnung aussagen muss – : hier und anderswo im Film scheint Zeit keine Rolle zu spielen. Dabei spielt sie die Hauptrolle. Der Schallplattenladen zum Beispiel ist nicht nur der Plattenladen. Während Lucho hereinkommt in die Welt der bunten Plattenhüllen und Posters, der ebenso übersichtlichen wie aseptisch-sauber und zum Kauf reizend angeordneten Warenwelt, in der die Musik, die gerade läuft, und das Licht so raffiniert aufeinander abgestimmt sind, als gehörten sie zum Arrangement eines Hollywoodfilms, dessen perfekte Kommerzialität zum Kaufen Lust machen soll, auch jenseits des Kinos […]. Es gehört zur hartnäckigen Konsequenz dieses Films, daß die Freundschaft zwischen Lucho und Sophie, daß die Grenzen dieser Liebe ebenso ökonomisch bestimmt sind. […] Das Geld und seine Bedeutung für die Menschen, die in diesem Lande leben – das durchzieht Ziewers Film wie ein Leitmotiv. Ein anderes, kontrapunktisch eingesetzt, könnte man Familiensolidarität nennen. Immer wieder findet sich die Familie allein oder mit Freunden am großen Esstisch zusammen: hier, nirgendwo sonst ereignet sich Leben, hier erneuert sich die unbeugsame Kraft, das Exil und die Fremde zu bestehen und auf die Zukunft warten zu können. […] Auf die Zukunft warten können, aber die Gegenwart dabei nicht zu verlieren, weil sie die Zeit ist, welche die Zukunft braucht, um aus dem Vergangenen gegenwärtig zu werden: das ist die Utopie des Films, die sichtbar, fast körperlich greifbar wird in der Zeit, die er den Gängen und Fahrten zubestimmt, den Gesprächen und Debatten, den beharrlichen Blicken in Flure und Säle, auf Straßen und Plätze […].
Peter W. Jansen: Zeit für die Zukunft
Vorwärts, 15.6.1978
von Aníbal Reyna
Dieser Film ist wichtig für die Deutschen, weil sie sehen, was mit Ausländern in ihrem Land geschieht, und weil sie auf diese Weise etwas über ihr Land erfahren; und es ist sehr wichtig für die Chilenen, weil sie sehen, wie sie als Chilenen zusammenarbeiten und diskutieren können. Die Arbeit an diesem Film war für alle Beteiligten äußerst wichtig. Trotzdem habe ich mein Misstrauen gegen die Deutschen nie ganz überwinden können. Sie haben uns viel Freundlichkeit und Aufmerksamkeit entgegengebracht, aber ich habe mich manchmal gefragt: Wie sehr sind sie mit dem Herzen dabei, und wie sehr geht es ihnen nur darum, einen guten Film zu machen und ihre Professionalität zu zeigen? Es gibt große kulturelle Unterschiede und wir Chilenen haben, als Kolonialisierte, immer Angst davor, daß uns Europäer als Kolonialisten gegenübertreten […].
Aníbal Reyna, Darsteller des Vaters Araya, über »Aus der Ferne sehe ich dieses Land«
Presseheft, Basis-Filmverleih, 1978