Valentin hat sich im Laufe seines Lebens weit von dem Hotel in den Schweizer Bergen entfernt, in dem er bei seinen Großeltern aufwuchs. Doch ein Anruf der damaligen Zeitungsverkäuferin des Hotels, Fräulein Gabriel, holt ihn zurück in die Vergangenheit und an den Ort seiner Kindheit. Da das Hotel kurz vor dem Abriss steht, bittet Fräulein Gabriel Valentin, ihre geliebte Micky-Maus-Sammlung zu retten, und so begibt er sich auf die Suche nach den ehemals heißgeliebten Heften und dem »Zimmer mit Blick aufs Meer«. Dabei begegnet er ehemaligen Gästen, wird Zeuge illustrer Gesellschaften und trifft immer wieder sich selbst als Kind, das mit der Familie je nach Saison von Stockwerk zu Stockwerk zieht.
Ein Hauch von Glanz und internationalem Kino wehte am Samstag abend über die ausverkaufte Piazza Grande, als Daniel Schmid inmitten der Stars seines Films vor die 6500 Besucher trat […]. Mit einem Griff hatte Maria Maddalena Fellini, unverkennbar die Schwester Federicos des Grossen, dem Moderator sofort sein Mikrophon entwunden, um fortan die Präsentation der Anwesenden selbst vorzunehmen – mit derselben befehlsgewohnten Selbstverständlichkeit, mit der die von ihr im Film verkörperte Frau des Hoteldirektors das Haus leitet, in dem ihr Enkel, Hauptfigur und Ich-Erzähler der Geschichte, aufwächst. HORS SAISON ist ein liebevoll kolorierter Bilderbogen, der einer Epoche huldigt, die samt ihren Repräsentanten auf um so erstaunlichere Weise abgelebt erscheint, als es sich hier um die späten vierziger Jahre handelt.
Irritierend ist nun allerdings, wie die (auto)biographische Dimension des Stoffs völlig folgenlos bleibt – und dies nicht in erster Linie in bezug auf den Regisseur, der hier eigene Kindheitserlebnisse verarbeitet hat, sondern in bezug vor allem auf den erwachsenen Mann (Sami Frey), der im Film an den Ort seiner Kindheit zurückgekehrt ist, der sich ihm nun mit Erinnerungen zu beleben beginnt. Dieser Mann hat keine Geschichte, kein »Schicksal«, fremd und beziehungslos schaut er dem Kind zu, das er einmal gewesen sein soll. Vielleicht – vielleicht, dass er am Schluss, in der letzten Szene des Films, als er das Fenster zum Meer aufstösst, das blau vor ihm liegt, nun in die Tiefen der Erinnerung hinabzusteigen beginnen kann. ZWISCHENSAISON ist kein AMARCORD [IT 1973, Federico Fellini] geworden. Einsichten, wie sie die grossen Filme von Fellini, Bergman und Saura eröffnen, die von Kindheitserinnerungen ausgehen, vermag er nicht zu vermitteln. Bevor sich die Bereiche des Beunruhigenden, Verstörenden auftun könnten, wird der Blick in heiterer Verklärung des Vergangenen beruhigt.
che: Erinnerung, Vergessen
Zu drei Schweizer Uraufführungen in Locarno
Neue Zürcher Zeitung, 13.8.1992
Das Übergreifen vergangener Erlebnisse auf die Gegenwart bis zur völligen Ausschaltung der Wirklichkeit ist Daniel Schmids großes Thema. Die Erinnerung trieb seine Helden stets in surreale, traumatische Sphären. Sie suchten ihre wahre Identität und verloren sich dabei im Nichts. Die deutsche Passion, schreibt Deleuze, ist zur Angst geworden, doch die Angst ist auch der letzte Grund des Menschen, seine Würde, die etwas Neues ankündigt, eine aus der Angst entstehende Schöpfung als edle Passion. Insofern sind auch Daniel Schmids Filme wie die Verfilmung von Fassbinders »Der Müll, die Stadt und der Tod« unter dem Titel SCHATTEN DER ENGEL, das schwülstige Liebesdrama aus der Kolonialzeit, HÉCATE, oder der vom Identitätsverlust eines professionellen Spurensuchers, eines Journalisten handelnde JANATSCH keine Zerstörungs- und Untergangs-, sondern Erlösungsgeschichten.
ZWISCHENSAISON hat eine neue, ungewohnt leichte Dimension. Daniel Schmid, der viele Jahre keinen Kinofilm mehr gedreht hat, ist zu einem Verführer geworden. Er hat seine ausufernden Geschichten in streng kadrierte gemäldeartige Bilder (Kamera: Renato Berta) voll weicher Rottöne gebannt. Die düsteren Gespenster der Vergangenheit haben sich in wundervoll markante Figuren verwandelt, die er zum Leben erweckt und wie auf einer opulenten Bühne stilvoll und sinnlich zugleich bewegt. Es dauert nicht lange, und wir taumeln in den Räumen, die anfangs so beliebig vorkamen, wie in verwunschenen Spiegelkabinetten. Wir hängen, an den Lippen von Valentins Nonna (Fellinis Schwester Maria Maddalena Fellini), wenn sie von den Marotten Sarah Bernhardts erzählt. Wir werden zu Mitverschwörern, wenn Frau Dr. Studer (Arielle Dombasle) dem Kioskfräulein heimlich Liebesbriefe für den Tennislehrer zusteckt.
Die disparaten Episoden, begleitet von Ingrid Cavens verrauchter, erotischer Stimme, verschmelzen zu einer herrlich somnambulen Causerie, zu einer einzigen zarten Melodie. Einmal bringt Ingrid Caven den kleinen Valentin, der im Schlafanzug durch die Gänge geistert, um dem nächtlichen Treiben der Erwachsenen zuzuschauen, mit Brahms »Guten Abend, gute Nacht« ins Bett. Da werden auch wir unwillig, denn längst hat sie uns befallen, die kindliche Sehnsucht nach »Noch-einer-Geschichte, bitte!«.
Angela Schmitt-Gläser: In verwunschenen Räumen
Daniel Schmids leichthändiger Film »Zwischensaison«
Frankfurter Rundschau, 7.2.1994