Eine Nacht im Interhotel Potsdam: Frau Sbrchylinska ist verzweifelt. Sie ist mit dem Auto liegengeblieben und weiß nicht, wie sie nach Hause kommen soll. Mit dem Zug will sie nicht fahren, und im Hotel ist kein Zimmer mehr frei. Da trifft sie Herrn Paul, einen Bekannten ihres Mannes, und spricht ihn an. Sie gehen zusammen ins Restaurant, spazieren durch die Nacht, tanzen und trinken in der Bar und kommen sich immer näher. Ebenso zu Gast im Hotel ist ein junges Paar, das seinen ersten Hochzeitstag dort verbringt. Die jungen Leute wohnen noch bei den Eltern und versuchen im Hotel ihre Hemmungen abzubauen, was nicht recht gelingen will. In der Bar stoßen sie auf das ältere Paar und sind von deren freizügigem Umgang miteinander irritiert. Für beide Paare bietet die Nacht im Hotel noch einige Überraschungen, bevor sie am Morgen der Alltag wieder einholt.
»Nachtspiele«, wie man sie in üblicher Sicht erwartet, finden nicht statt. Dafür treten uns Menschen gegenüber, die sich und uns etwas zu sagen haben, die alltägliche, allen bekannte Situationen auf unalltägliche Weise meistern und dabei nicht nur den anderen, sondern auch sich selber ein bißchen besser kennenlernen.
Das ist kein »großes Thema«, aber ein wichtiges Anliegen: Werner Bergmann erkundete in seinem Film NACHTSPIELE in sensibler Weise die Innenwelt von Zeitgenossen. Das Interhotel Potsdam, das er als Handlungsraum für seine vier Helden wählte, ermöglicht im Sinne der klassischen Dramaturgie eine klare Orientierung des Zuschauers durch die stets gewahrte Einheit von Zeit, Ort und Handlung. […]
Die beiden Paare bewegen sich zunächst unabhängig voneinander. Herr Paul und Frau S. kommen einander näher, befragen sich, erfahren mehr vom anderen. Martin und seine junge Frau entfernen sich voneinander. Der junge Mann beginnt zu spüren, daß seine Frau neu erobert werden will, daß sie nicht nur sein Begehren, sondern auch seine Achtung fühlen möchte. Die Achtsamkeit des reiferen Mannes für die reifere Frau wird zur Aufforderung an die jungen Leute – aber nicht zur Bevormundung. Hier liegt der Schlüssel zum Verständnis der ungewöhnlichen Lösungsvorschläge, die im letzten Viertel der NACHTSPIELE unterbreitet werden.
Werner Bergmann ist sichtbar und spürbar der Lebenssicht und der Lebenshaltung des reiferen Paares näher, und er vermag durch diese beiden unmittelbarer mit dem gleichgearteten und aufnahmebereiten Zuschauer ins Gespräch zu kommen. Aber auch beim jungen Paar ist trotz mancher Unebenheiten die Charakteranlage nicht weniger lebenswahr.
Heinz Hofmann: Achtsamkeit wird zur Aufforderung
Ungewöhnliche Hotelüberraschungen im DEFA-Film »Nachtspiele«
Nationalzeitung (Ost-Berlin), 27.2.1979
Eine kleine bescheidene Geschichte wird auch mit kleinen und bescheidenen Mitteln vorgetragen. Alltäglichkeit und der Verzicht auf dramatische Verwicklungen. Ganz normale Menschen reagieren auf nicht ganz so normale Situationen doch ziemlich normal. Wer die Interhotels für eine Exklusiv- und Exquisitwelt hält, in der dann auch die Psychologie und das Verhalten der Gäste extravagant sein müßten, ist ohnehin selber daran schuld. Die »Nachtspiele« sind harmlose Spiele.
Des DEFA-Kameramanns Werner Bergmann Debüt als Autor und Regisseur gibt sich schlicht und unambitioniert. Er, der zu Recht als einer der besten seines Fachs gilt und in seiner langen Zusammenarbeit mit Konrad Wolf sich immer wieder durch die Genauigkeit und Ausdruckskraft seiner Bildgestaltungen auszeichnete, hat hier überdies ein Experiment in Sachen ökonomischer Effektivität unternommen. Was nicht gering zu bewerten ist. Er wollte beweisen, daß man einen Film auch wesentlich weniger aufwendig drehen kann, als dies zumeist geschieht, und das ist ihm gelungen. Die Schwächen, die der Film hat, resultieren nicht aus der Sparsamkeit. Sie haben eine andere Ursache.
Die nämlich, daß das, was hier erzählt wird, eben doch nur die Substanz einer besinnlichen Kurzgeschichte hat und für einen abendfüllenden Spielfilm ein bißchen wenig ist. Lebensnahe Vorgänge werden lebensfreundlich geschildert, doch viel mehr erfolgt nicht. Lediglich andeutungsweise erfährt man etwas mehr über die Filmgestalten, etwas, was über diese Vorgänge hinausgeht. Sie haben fast keinen Hintergrund.
Das junge Paar (gespielt von Thomas Neumann und Doris Plenert) besteht vornehmlich aus unreifer Naivität. Der Dienstreisende bleibt sehr farblos, und so bleibt dies auch seine Darstellung durch Horst Drinda. Nur die Frau mit der Panne gerät nicht so vage und unbestimmt, wird interessant. Sie, in ihrem Lebensumfeld näher bestimmt als eine nichtberufstätige Hausfrau und Mutter, wird daraus auch in ihrem Wesen erkennbar, und Christine Schorn erfaßt das sehr genau, wie sie aus ihrer anfänglichen befangenen Ratlosigkeit und Besorgtheit aufblüht zum fröhlichen Genuß eines ungewohnten Extraabends mit Sekt an der Bar und dem Glücksgefühl, noch umworben und begehrt zu werden.
H. U.: Menschen im Hotel
Zu dem DEFA-Film »Nachtspiele«
Neue Zeit (Ost-Berlin), 1.3.1979
Bergmann weiß recht feinfühlig die oft konträren oder schlagartig wechselnden Stimmungen seiner Helden zu erfassen, die fast unwirkliche Atmosphäre dieser Nacht einzufangen – beispielsweise die flirrende Spannung des Schwebezustandes zwischen Spaß und Ernst, als sich Frau Irma und Herr Bruno in den frühen Morgenstunden näherkommen, oder die übermütige Gelöstheit des jungen Paares, als es sich nach Mißverständnissen und Zwist beim gemeinsamen phantasievollen Bemalen der Zimmerwand mit Lippenstift, Wimperntusche und Rouge versöhnt.
Darstellerisch gibt es Erfreuliches und Enttäuschendes. Christine Schorn als Irma vermag überzeugend vorzuführen, wie aus anfänglicher Exaltiertheit und Nervosität anmutige Fraulichkeit wird. Amüsement an der kuriosen Situation, souveräner Flirt mit den männlichen Eroberungsgelüsten. Man glaubt ihr, daß sie nach den Stunden unfreiwilligen Aufenthaltes selbstbewußter, gelöster ist, zu Selbstbesinnung und Selbstvertrauen gefunden hat. Horst Drinda hat’s mit seinem reichlich starr und eindimensional angelegten Architekten schwerer. Großen Spaß bereitet es, wie er die Nöte der für ihn verkorksten Nacht komödiantisch akzentuiert. Den beiden jungen Akteuren Doris Plenert (Dramaturgin im DEFA-Dokumentarfilmstudio) und Thomas Neumann (Berliner Ensemble) ist dagegen weniger Spielraum gegeben, außer scheuer Verklemmtheit und erotischem Gehemmtsein ihren Helden menschlich bewegende Züge zu verleihen.
Die Kameraführung von Michael Göthe ist keineswegs Imitation des Bergmannschen Stils. Streckenweise besitzt sie beachtliches Format, weniger in äußerlichen Spielereien, vielmehr in optisch schönen Liebeserklärungen an Potsdam, dessen Panorama zu unterschiedlichsten Tages- und Nachtzeiten stimmungsvoll ins Bild kommt.
Hans-Dieter Tok: Vier Menschen im Hotel
Wochenpost (Ost-Berlin), 16.3.1979