In einem Luxushotel vertreiben sich die reichen Gäste die Zeit mit Theater, Glücksspiel und Nichtstun. Wie erstarrt erscheint diese Welt und die Menschen darin wie Statuen. Dazwischen ein Mann (X), der eine Frau (A) begehrt und sie an die gemeinsame Zeit im gleichen Hotel vor einem Jahr erinnert – oder war es doch ein anderes? Sie hätten sich geliebt und wollten zusammen fortgehen, doch sie erbat sich ein Jahr Bedenkzeit. Die Frau kann oder will sich nicht erinnern. Ein anderer Mann (M), vielleicht der Ehemann der Frau, fordert X wiederholt zu einem Nim-Spiel auf, das dieser jedes Mal verliert. Eindringlich bedrängt X die Frau, sich zu erinnern und mit ihm zu gehen. Dabei bleibt unklar, ob sie sich wirklich jemals zuvor getroffen haben oder er es ihr nur suggeriert. Schließlich erliegt sie seiner Überredung und folgt ihm – in die Liebe, in die Freiheit, in den Tod?
LETZTES JAHR IN MARIENBAD, nach einem Buch von Alain Robbe-Grillet, hüllt alles in eine distanzierende Anonymität ein, den Ort, die Zeit und die Menschen. In den barocken Prunkräumen irgendeines Luxushotels mit seinen Säulen, poliertem Marmor, seinen getäfelten Türen, seinen Wänden mit aufgezeichneten Perspektiven, seinen Gängen, die wiederum in Gänge münden, seinen Zimmerfluchten im kalten Stein und seinen Teppichen, die das Geräusch in Schweigen verwandeln, in diesem Schloß mit einem Park, in dem sich nie etwas ereignet, wo die antiken Statuen stehen, verbringt die »geschlossene Gesellschaft« ihre Zeit beim Glücksspiel, beim soignierten Amüsement und bei nichtssagender Konversation […]. In diesem Käfig, der die Freiheit einengt, erkennen die Insassen nicht einmal mehr die goldenen Gitterstäbe. Nur ein Mann und eine Frau jagen der Freiheit nach, die ihnen wie ein unerreichbares Phantom erscheint. Auf der Suche nach gemeinsamen Idealen und Ordnungsvorstellungen verlieren sie sich in Erinnerungen an eine Vergangenheit, die immer wieder in die Gegenwart mündet, eine verlorene Zeit, die sich als wirklich und als trügerisch zugleich erweist. Die Frau sucht Trost im Vergessen […], aber die sich ständig wiederholende Erzählung des Mannes, in der Gewesenes und Seiendes innig verschmelzen, treibt sie zur letzten Konsequenz: zusammen mit dem Unbekannten verläßt sie die »überladene« Hölle, in der selbst der Teufel den Smoking trägt; sie gibt nach und geht mit dem anderen irgendwohin, vielleicht in die Freiheit, vielleicht in die Gefilde der Liebe, vielleicht ins Tal des Todes. Oder sie wandelt nur durch ihre Träume und der Fremde hat niemals existiert? Ob sie wirklich aus der falschen, ihr sicher erscheinenden Welt ausbricht? Der Film setzt nur einen Doppelpunkt: die Konklusion wird von jedem selber erdacht.
Martin Ruppert: Resnais’ geschlossene Gesellschaft
Der Film »Letztes Jahr in Marienbad«
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.10.1961
Bei der Biennale 1961 hatten Journalisten ulkhalber in das offizielle Festivalbulletin einen Artikel lanciert, der mit absichtlich abstruser Beweisführung zu demonstrieren suchte, dies sei der erste »kubistische« Film, dem synthetischen Kubismus aus der Frühzeit von Picasso und Braque vergleichbar; dieser freundliche Nonsens ist inzwischen durch Nachrichtenagenturen und Zeitungs-»Kritiken« auch bei uns verbreitet. Der Regisseur Alain Resnais selber bezeichnete seinen Regiezweitling als einen »film freudien«, einen nur mit der Tiefenpsychologie Sigmund Freuds aufschlüsselbaren Versuch, und an archetypischen Bildern und surrealistischen Motiven ist darin durchaus kein Mangel. […]
Auf dem wohl am meisten reproduzierten Standphoto aus diesem Film sieht man Menschen inmitten des Parkes stehen, unbewegt, und sozusagen ihre einzige »Tätigkeit« ist das Werfen von Schatten. Die Statuen und die Buchsbaumpyramiden dabei werfen jedoch keine Schatten. Da Resnais die Schatten der Menschen hatte auf die Parkwege aufmalen lassen, meinte ein Kritiker schon, er hätte die anderen vergessen; doch ging es ihm darum, die Schatten als das andere, das zweite Bild des Menschen erkennen zu lassen, und von diesem zweiten Bild des Menschen, sei es sein Schatten, seine Seele oder sein Unterbewußtsein, handelt der Film. Die Erklärungen dafür bieten sich zuhauf, von Platons Höhlengleichnis bis zu Einsteins Relativitätstheorie und von der homerischen Hadesfahrt des Odysseus bis zu Chamissos »Peter Schlemihl«. Willentlich gezielt haben die Autoren Robbe-Grillet und Resnais jedoch auf archetypische Vorstellungen des Unterbewußten, und wer sie mit den Mitteln der Traumanalyse (als den einzig hierauf treffenden) zu deuten bemüht ist, deutet logischerweise nur sich selbst.
Ein Film wie dieser wendet sich ausschließlich an ein geistig exklusives, mit der Entwicklung des Romans von Proust und Joyce bis zu Robbe-Grillet und mit der Tiefenpsychologie von Freud bis Jung vertrautes Publikum. Er ist handwerklich von unerhörter Raffinesse, hörenswert auch in der kunstvoll verfremdeten Orgelmusik von Francis Seyrig. Wenn der ernst zu nehmende Teil der sogenannten »Neuen Welle«, die so neu eigentlich auch wieder nicht ist, sondern sich streng genommen bis auf Cocteaus SANG D´UN POÈTE zurückführen ließe, ein literarisches Engagement ist, so hat LETZTES JAHR IN MARIENBAD darin einen Endpunkt erreicht – jenen Endpunkt, wo der Ausbruch aus den traditionellen Gesetzen des Films auch den Ausbruch aus den Wirkungsmöglichkeiten des Films einschließt. MARIENBAD ist ein hermeneutischer Film voll außergewöhnlicher lyrischer Schönheiten, den Cocteau hätte drehen können, wenn er heute so jung wie Resnais wäre.
USE [= Ulrich Seelmann-Eggebert]: Letztes Jahr in Marienbad
Film-Dienst, Nr. 47, 15.11.1961
Dieser Film wurde auf der letzten Biennale von Venedig preisgekrönt und schon während der Dreharbeiten in verschiedenen bayerischen Schlössern Ludwigs II. mit Vorschußlorbeeren überladen wie ein Marmorkatafalk. Es hat hymnische Lobpreisungen über ihn gegeben und erstrangige Kritiker, die sich angesichts des Werkes von Alain Resnais (HIROSHIMA - MON AMOURH) einer gewissen Hilflosigkeit nicht erwehren konnten. Die Pariser Presse schrieb jubilierend »Mort au cinéma de papa!«, was etwa soviel bedeutet wie: »Väterchens Kintopp ist tot!«, und an anderer Stelle heißt es: »Im August 1961 begann ein neues Kapitel der Filmgeschichte.«
Nun gibt es für den Kritiker zwei Möglichkeiten – wo gäbe es sie nicht – , über MARIENBAD einem Publikum zu berichten, von dem niemand erwarten kann, daß es sich gleichermaßen aus Kennern der allermodernsten französischen Literatur, der Bewegung des sogenannten »Neuen Romans« zusammensetzt – der Drehbuchautor Alain Robbe-Grillet steht dieser Bewegung nahe –, aus Kennern einer Filmtechnik, die beim guten alten CABINET DES DR. CALIGARI der zwanziger Jahre genauso Anleihen macht wie bei Cocteau, seiner ORPHÉE, und manchen Errungenschaften der »Neuen Welle«. Um MARIENBAD voll zu würdigen, müßte man Eugène Ionesco und seine Stücke mit den sich ins Unendliche wiederholenden Monologen kennen, man müßte sich an den großen Romancier James Joyce erinnern, von abstrakter Malerei etwas verstehen, davon wissen, daß Resnais einen angeblich herrlichen, niemals von der Zensur freigegebenen Film über Statuen gedreht hat – sie spielen auch diesmal wieder eine entscheidende Rolle –, man sollte wissen, wie die besten Modephotographen von heute arbeiten und wie die gefeierte Schneiderin Coco Chanel ihre Roben komponiert.
Das alles kann man von einer kleinen Schicht Interessierter in einer Stadt wie Paris verlangen, wo geistige und gesellschaftliche Kultur auf engstem Raum in Essenz geboten werden. Überall anderswo von dieser Voraussetzung auszugehen, ist einfach intellektuelle Hochstapelei.
Aber Alain Resnais ist ein Regisseur, dem wir alles zutrauen dürfen, nur nach HIROSHIMA keinesfalls irgendwelche Unehrlichkeiten. Er selbst hat wiederholt Presse und Publikum geradezu angefleht, seinem neuen Film keinen »tieferen Sinn« zu geben, ihn einfach anzusehen wie eine Skulptur, wie etwas, das in seiner Form vollendet ist, das Feste für die Augen bietet, während hinter der Stirn jene Monologe pausenlos weitergehen, Träume, Fragen und Ängste formuliert werden, die jeder Erwachsene kennt, der sich auch nur ein einziges Mal in seinem Leben die Mühe gemacht hat, zu träumen, zu fragen oder sich zu ängstigen.
Nach der ersten anstrengenden halben Stunde habe ich mir gesagt: »Hier müßte jemand hergehen, der keine Ahnung von Filmgeschichte und Filmtechnik hat. Jemand, dem es gegeben ist, unbefangen einfach zu sehen.« Und zu meinem großen Entzücken habe ich bei Resnais eine Stelle gefunden, in der er genau sagt: »Je weniger jemand vom Film ›versteht‹, desto sicherer bin ich, daß er MARIENBAD begreifen wird.« Ersparen Sie sich und mir daher eine mit »Bildung« beladene Kritik über die »Liebesgeschichte« zwischen Delphine Seyrig, Gino Albertazzi und Sacha Pitöeff – sie kann nicht anders sein, wenn man nur den mindesten Respekt vor Leistung aufbringt. Aber wenn Sie sich ein Abenteuer bereiten wollen, von dem sie in jedem Falle lange zehren werden, dann gehen Sie hin und besuchen Sie LETZTES JAHR IN MARIENBAD.
Inge Pohl: Ebensooft abgelehnt wie bejubelt: »Letztes Jahr in Marienbad«
Hamburger Abendblatt, 26.11.1961