Basierend auf dem Bühnenstück »The Berg« von Ernest Raymond. Der Ozeandampfer »Atlantic« ist mit mehreren Tausend Passagieren auf dem Weg nach Amerika unterwegs im nördlichen Eismeer. Der größte Teil der Geschichte spielt im Rauchsalon der Ersten Klasse, wo so unterschiedliche Menschen aufeinandertreffen wie der im Rollstuhl sitzende Schriftsteller Heinrich Thomas mit Frau und Diener, der untreue Aristokrat von Schröder mit Frau und Tochter, der trinkfreudige Lebemann Dr. Holtz, der junge österreichische Musiker Poldi und die jungverheirateten Monica und Peter auf Hochzeitsreise. Als das Schiff einen Eisberg rammt, macht sich zunächst niemand ernsthafte Sorgen, das Schiff gilt als unsinkbar. Doch bald wird klar, dass nur noch wenige Stunden bis zum endgültigen Untergang bleiben. Da nicht genug Rettungsboote an Bord sind, bricht eine Panik aus. Im Rauchsalon versammeln sich die Menschen um Heinrich Thomas, der mit fast schon stoischer Ruhe die Situation analysiert. Nach anfänglicher Verzweiflung versucht die Gruppe sich mit ihrem Schicksal abzufinden.
Der Regisseur E.A. Dupont hat hier mit einem gewissen Fanatismus danach geforscht, was beim Tonfilm Irrweg sei. – Tonfilm ist einmal Geräuschfilm – Tonfilm kann auch Dialog sein; dies war ihm offenbar die Grundüberlegung, die richtige. Da aber klappende Haustüren, tutende Autos und krähende Hähne nicht genügend dramatischen Impuls ergeben, war die Frage nach der Geräuschquelle mit einer Kapelle und mit dem Lärm der Technik zu beantworten: Also Jazzkapelle auf stampfendem, tutendem, windumsaustem Schiff. – Die zweite Frage war weniger einfach zu lösen, denn Dialog muß Qualität haben, und Qualität ist [nicht] einfach. (Duponts Zwischenruf war: »Dichter her!« – aber es kam keiner.) Da kam er auf ein englisches Theaterstück (von Ernest Raymond), in dem sich Menschen auf einem Schiff angesichts des Todes unterhalten: Also Untergang der Geräuschquelle mit begleitendem Dialog – Untergang des Schiffes. Das ist formelhaft die Grundidee dieses Versuchs.
Vor dem Ganzen der Ausführung steht man hilflos. Die Überschneidung zwischen den Begriffen Film und Theater geht mit jeder Linie durch das Herz des Zuschauers. Den großkopfeten Ganzaufnahmen sprechender Schauspieler fehlt die Dimension des Raumes – jeder beugt sich, um zu sprechen, im Grunde aufdringlich hinweisend in das Geviert der Leinwand. Szenisch als Film vorzüglich angelegte Bilder leiden an der merkwürdigen Notwendigkeit, daß Anlässe für die Geräusche des Lautsprechers sichtbar ins Bild gesetzt werden müssen. Eines prügelt sich oft mit dem anderen. Ein Auseinanderfall des Films ist unvermeidlich. Auf der einen Seite geräuschumfangene Bewegung von Sachlichkeiten (also Schiff, Maschinen, Wellen, Musikinstrumente, Telephon usw.) und auf der anderen Menschen, die Dialog reden, ohne neben sich, vor und hinter sich Raum zu haben, in dem das Wort schwingen und als Resonanz zuletzt gleichsam nur durch Zufall zum Hörer kommen könnte. Sondern diese Worte und Unterhaltungen des Tonfilms sind vorläufig alle irgendwie peinlich verwandt dem dramatischen Theater-Krückstock des »Nebenbeigesprochen«. Diese Tonfilmdialoge sind (ganz abgesehen hier von der Qualität) Dialoge des Regie führenden Autors direkt mit dem Publikum, und nicht Zwiesprache der Leinwandgestalt mit ihrem Anbeter im Parkett. Sind solche Dialoge nun noch, wie hier der Fall, mit teilweise unlebendiger, erklügelter Literatur über Tod und Sterben belastet, stammen sie überdies noch vom Theater her, so ist das Verhältnis zwischen Lautsprecher und Leinwand viel feindlicher als sonst zwischen Kitsch und Kunst.
Und doch werden viele Regisseure E.A. Dupont dankbar sein für diese Erstbesteigung eines Gipfels, wenn dieser auch leider keine Aussicht bietet. An seinen falschen Griffen werden sie lernen, die ihrigen zu verbessern. Und vielleicht gibt es doch einen Gipfel, auf dem noch heute umnebelt, unerkannt und unbezwungen die Tonfilmkunst nahe dem Himmel hockt: Dornröschen im Lautsprecher. Aber Dupont wird zu den Erstbesteigern kleinerer Gipfel gehören, später, wenn die anderen auf die großen schon mit der Drahtseilbahn fahren und darauf noch stolz sind.
ma. [= Frank Maraun, d.i. Erwin Goelz]: E.A. Dupont: Atlantic
Deutsche Allgemeine Zeitung (Berlin), 29.10.1929
Herr Dupont, ungewöhnlich begabter deutscher Regisseur, der in England bemerkenswerte Filme dreht, hat für seinen ersten Sprechfilm einen sehr großen Stoff, fast einen #Potemkin#-Stoff gefunden. Einen umgekehrten POTEMKIN. Er zeigt nicht Revolte und Aufstieg des Proletariats, sondern Untergang und Passivität reicher Leute. […]
Sehr zu seinem Schaden, wie immer, hat sich der Hersteller des Manuskripts von der Wirklichkeit entfernt. Der Untergang der TITANIC hatte Ursachen; die Rekordwut und den geschäftlichen Ehrgeiz der Reederei. Man fuhr gegen die Konkurrenz und siehe: man fuhr gegen einen Eisberg. Der Untergang der ATLANTIC hat nur einen Grund: man stößt gegen einen Eisberg. Der Untergang der TITANIC zeigte tapfere Leute und Feiglinge, die Reeder zum Beispiel, die sich unbekümmert vor ihren Passagieren retten ließen; der Untergang der ATLANTIC zeigt nur Helden. Aber der größte Fehler des Manuskripts ist, daß der Zuschauer überhaupt nur die erste Klasse zu sehen bekommt, die langweiligste; die zweite und die dritte fehlen.
So sehen wir die stärksten Bilder, welche auch einen richtigen Weg zum Tonfilm weisen, in diesem Film zunächst neben der Handlung: den Bug des Schiffs bei Nacht durch das Wasser schneidend und das Geräusch des Wassers dazu. Eben hat man im Salon erfahren, das Thermometer sinke; es wird empfindlich kalt; man kommt in die Provinz der Eisberge; unsichtbar geht das Gerücht durch die Passagiere, und jeder erfährt etwas. Aber der Kapitän muß fahren, und unaufhörlich, dumm wie ein Pferd, zieht das kalte Metall des Schiffs durch das flimmernde Wasser der Gefahr zu, vielleicht an der Gefahr um Haaresbreite vorbei. Das ist ein Bild, welches beinahe die Kraft der Chöre einer antiken Tragödie hat.
Bernard von Brentano: Mitten in der Frühzeit
Uraufführung des ersten deutschen Sprechfilms
Frankfurter Zeitung, 4.11.1929